Soziologe Christopher Wimmer über Armut: „Die Politik bietet ihnen nichts an“
Immer wieder werde armen und marginalisierten Menschen vorgeworfen, selbst schuld an ihrer Lage zu sein, kritisiert der Soziologe Christopher Wimmer.
taz: Herr Wimmer, im Streit um den Haushalt soll gerade im Sozialen massiv gespart werden. Jeder Fünfte in Deutschland ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Für Ihr Buch „Die Marginalisierten“ haben Sie mit Betroffenen gesprochen. Was haben diese Menschen gesagt?
Christopher Wimmer: Sie haben vor allem mit der Mär aufgeräumt, dass es absolute Armut, Ausgrenzung und Marginalisierung in Deutschland nicht gebe. Sie haben mir deutlich und plastisch gezeigt, was es bedeutet, wenn man nicht genug Geld für Miete und Essen hat, wenn es an allen Ecken und Enden mangelt. Und sie haben gezeigt, dass man diesen Menschen nicht vorwerfen kann, sie seien selbst schuld an ihrer Lage, sondern dass es systematische Gründe gibt, warum sie sich ganz unten befinden.
ist Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Forschungsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Armut und Marginalisierung. Zuletzt erschien von ihm „Die Marginalisierten. (Über-)Leben zwischen Mangel und Notwendigkeit“ in der Verlagsgruppe Beltz.
Was für Personen waren das?
Alle Interviewten haben unterhalb der Armutsgrenze gelebt. Die meisten waren Langzeiterwerbslose. Häufig kam Obdachlosigkeit, Krankheit oder ein zurückliegender Gefängnisaufenthalt hinzu. Einige Interviewte waren auch Alleinerziehende oder von Altersarmut betroffen. Bei den Interviewten kamen also Risiken zusammen, die dazu führten, dass diese Menschen ausgegrenzt und marginalisiert werden.
Sie schreiben von marginalisierten statt von armen Menschen. Was ist der Unterschied?
Marginalisierung ist mehr als nur materielle Armut. Betroffene können nicht am sozialen, kulturellen und politischen Leben teilhaben. Ebenso beinhaltet Marginalisierung einen symbolischen Aspekt. Das heißt, es kommt zu Ausgrenzung und Stigmatisierung durch Politik und Mehrheitsgesellschaft, dass Marginalisierte selbst an ihrer Lage schuld seien. So wird ihre Situation immer weiter zementiert.
Haben sich diese Menschen selbst als arm und marginalisiert wahrgenommen?
Soziologische Studien haben immer wieder gezeigt, dass sich selbst arme Menschen häufig zur Mitte der Gesellschaft zählen. Aber alle, mit denen ich gesprochen habe, hatten an ihrer sozialen Position ‚ganz unten‘ überhaupt keine Zweifel. Teilweise haben sie sich selbst sogar als ‚letzter Dreck‘, ‚Müll‘ oder ‚Aussatz der Gesellschaft‘ bezeichnet.
Hatten sie Hoffnung, dass sich ihre Lage verbessert?
Vereinzelt gab es noch ein wenig Hoffnung. Das waren aber Befragte, die meist aus der Mittelschicht stammten und durch ein biografisches Ereignis in ihre derzeitige soziale Situation kamen, wie Trennung oder Wohnungsverlust. Bei der Mehrheit herrschte jedoch Hoffnungslosigkeit. Diese Menschen kamen überwiegend bereits aus marginalisierten Familien. Das heißt, sie haben schon in ihrer Kindheit Armut und Ausgrenzung erlebt. Insbesondere das Ausmaß an Gewalt, das sie als Kinder erlebt haben, hat mich erschüttert.
Warum wehren sich diese Menschen nicht gegen ihre Situation?
Dass sie sich nicht wehren, stimmt nicht ganz. Sie wollen zwar vielleicht nicht Mitglied in einer Partei oder Gewerkschaft werden – diese Organisationen bieten den Menschen aber auch nichts an. Wovon ich in meinen Interviews aber durchaus erfahren habe, sind Formen von Selbstorganisierung, gegenseitiger Unterstützung und Selbsthilfe, die diese Menschen praktizieren. Dabei geht es um praktische Tipps und Tricks, wo man zum Beispiel einen Schlafplatz finden kann oder wie man am besten beim Amt durchkommt.
Was müsste sich gesellschaftlich ändern?
Zunächst müsste die Grundsicherung erhöht werden. Das ist eine wichtige Maßnahme, um die materielle Lage armer Menschen zu verbessern. Fast noch schwieriger ist aber, die symbolische Ebene zu verändern. Da geht es nicht nur darum, wie gesellschaftlich über arme und marginalisierte Menschen diskutiert wird, sondern auch darum, dass mit ihnen und nicht nur über sie gesprochen wird. Da gibt es noch enormen Handlungsbedarf.
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