Sozialunternehmerin in Nepal: Nasreen Sheikhs Plan geht auf
Eine Frau widersetzt sich der arrangierten Ehe und gründet eine Firma, die anderen Frauen in einer Zwangslage hilft – mit enormem Erfolg.
„Wie kannst du mir das antun? Warum heiratest du nicht wie alle?“, klagt die Mutter. Das grüne Tuch ist ihr vom Kopf gerutscht und zeigt strähnige Haare über den buschigen Brauen. Nasreen Sheikh schweigt. „Wenn ich dich mit diesen Fremden sehe, denke ich, ich hätte dich als Baby wegwerfen sollen.“
Später steht Nasreen Sheikh mit einer dieser Fremden in dem kleinen Ladenraum unterhalb der Wohnung. Er ist vollgestopft mit bunten Schals, Taschen und Kleidern, die Schaufenster sind blind vor Staub. Nasreen Sheikhs traditioneller Salwar Kurta, eine Tunika über weiten Pluderhosen, umhüllt ihren schmalen Körper. Sie wirkt mädchenhaft mit ihren 40 Kilo und der Stupsnase, albert mit einer Touristin aus den USA herum, die fast ein Dutzend Schals auf den Ladentisch türmt. „97 Dollar“, sagt Saheen Sheikh, Nasreens 19-jährige Schwester. Die Touristin schluckt.
„Die Produkte sind handgenäht. Von Frauen, die zwangsverheiratet wurden oder kaum Geld und Chancen haben“, erklärt Nasreen Sheikh. Mehr muss sie meist nicht sagen, um Kunden von ihrem Projekt „Local Women’s Handicrafts“ zu überzeugen. Sie legt ihnen die Hand auf die Schulter, erzählt von ihrem Projekt, ohne sich aufzudrängen. Die Fremden haben schon nach wenigen Sekunden das Gefühl, Sheikh gut zu kennen. Die Touristin zückt den Geldbeutel und zahlt.
Die Zwangsehe: eigentlich verboten
Nasreen Sheikhs Geschichte ist die eines ungewöhnlichen Aufstiegs in einem der ärmsten Länder der Welt. Sie beginnt in einem konservativen Dorf an der indisch-nepalesischen Grenze und endet in der Hauptstadt Kathmandu, wo Nasreen Sheikh ein Sozialunternehmen führt. Vielleicht ist das auch erst ihr Anfang. Denn die junge Frau hat Größeres vor.
„Es ist schwierig, meine Geschichte zu erzählen“, sagt sie. „Sie klingt so unwirklich.“
Nasreen Sheikh wuchs in dem Grenzdorf Rajura auf. Der Vater psychisch krank, die Mutter tiefgläubig und verwurzelt in den Kastenregeln, da lernte Sheikh früh: Schule ist Jungensache. Sie sah, wie ihre Schwester Yasmin mit 11 Jahren verlobt wurde, mit 16 vermählt. Bei der Hochzeit weinte die Schwester.
In Nepal sind Ehen zwischen Minderjährigen verboten. Doch viele entziehen sich den Gesetzen durch traditionelle Zeremonien. So wie Nasreen Sheikhs Mutter Haleema. Sie will die Töchter an gute Männer vermitteln, das heißt: sunnitisch und mit einem guten Einkommen.
Eine spontane Geste
Als Nasreen Sheikh 13 war, zog die Familie nach Kathmandu. Ihr Glück, denn in Städten heiratet man später. Statt windschiefer Bauernhütten gab es Handyshops, statt verhüllten Hausfrauen Touristinnen in Shorts. Manchmal saß Sheikh am Straßenrand und beobachtete das Treiben. Sie lebte erst drei Monate in der Stadt, als ein weißer Mann vorbeikam, Mitte 50, Schnauzer. „Kannst du mir Englisch beibringen?“, fragte sie und zupfte ihn am T-Shirt. Der Fremde blickte hinab. „Klar“, antwortete er auf Nepalesisch.
„Unglaublich“, sagt Nasreen Sheikh heute, „ich hatte noch nie jemanden um Hilfe gebeten.“ Leslie St. John, der Fremde, sagt: „Es gibt so viele bettelnde Kinder in Nepal. Ich hatte noch nie einem geholfen.“
St. John erzählt von dieser ersten Begegnung am Telefon einer Pflegeeinrichtung in Los Angeles. Die Parkinson-Krankheit hat den 67-Jährigen zurück in seine Heimat geführt, nach vierzig Jahren in Asien. Er unterrichtete in Klöstern Englisch und Religion, traf den Dalai Lama.
„Nasreen war so aufgeweckt“, sagt St. John. Er kaufte ihr Bücher, unterrichtete sie zu Hause. Dann ging sie zur Schule, in Bluse und Faltenrock, übersprang zwei Klassen. St. John übernahm alle Kosten. Erst nannte sie ihn Lehrer. Dann Papa. Für die Eltern blieb er der Fremde. Nur ihr Bruder Maghar unterstützte das Mädchen.
Die drei Geschwister
Maghar, heute 33, sitzt auf einer abgewetzten Matratze in Nasreen Sheikhs Wohnung. „Der Doktor war eine riesige Chance für sie“, sagt er. An seinem linken Handgelenk prangt eine Narbe. Elf Jahre war er alt. Eine Glühbirnenfabrik in Delhi, immer wieder platzte das Glas. Dann nähte er den ganzen Tag Bordüren an Saris, stolz, weil er die Familie ernährte. „Wenn ich schon nicht zur Schule gehen konnte, sollte wenigstens Nasreen das tun.“ Auch Maghars Ehe war arrangiert. Für Nasreen Sheikh wollte er etwas Besseres, brachte ihr neben der Schule das Nähen bei.
Tag und Nacht ratterte die Maschine in dem kleinen Zimmer in Kathmandu. Die Geschwister belieferten für einen Hungerlohn eine Textilfabrik. Die erste Frau, die zu ihnen stieß, sprach Nasreen Sheikh auf der Straße an, eine schwangere Bettlerin. Sie zeigte ihr, wie aus Stoffbahnen Röcke und Schals werden. Das sprach sich herum; als sie zu sechst waren, eröffneten sie den Laden. So begann 2006 Nasreen Sheikhs kleine Firma. Im Kern die drei Geschwister, Maghar, Nasreen, Saheen, nur der Bruder volljährig. Sie boten drei Produkte an, zu lächerlich niedrigen Preisen. „Und die Leute kauften die Sachen“, sagt Nasreen Sheikh, noch immer ungläubig.
Nebenher beendete sie die Schule und studierte mit St. Johns Hilfe Elektronik und Informationstechnologie. Als sie 20 wurde, intervenierte die Mutter: „Zeit zu heiraten.“ Die Eltern hatten einen Jungen aus dem Heimatdorf gewählt, das Datum stand fest. Nasreen Sheikh durfte ihn nicht kennenlernen, so will es der Brauch.
Den Dorfvorsteher bestochen
Sie weigerte sich. Als Erste aus ihrem Dorf. Die Eltern zerrten sie aus dem Laden, der Vater schlug zu, die Mutter wollte sich umbringen. Sie tauchte bei Freunden unter. Erst als Maghar den Dorfvorsteher bestach, damit er verbreitete, Sheikh sei geisteskrank, wurde die Hochzeit abgesagt. Ihre Eltern wurden zum Gespött des Dorfes.
Nasreen Sheikhs Augen glänzen feucht, wie jedes Mal, wenn sie von der Zwangsheirat erzählt. Sie hat nie vergessen, wo ihr Weg begonnen hat. Immer wieder betont Nasreen Sheikh, wie dankbar sie Leslie St. John ist. Sie empfindet es als ihre Pflicht, diese Hilfe an andere Frauen weiterzugeben. Dafür stellt sie sich selbst zurück. Erst nach Tagen erzählt sie, dass sie eigentlich gerne Astronomie studieren möchte.
Sie geht hinunter in den Laden, das Telefon klingelt. Sofort fasst sie sich. „Namaste?“ Der Lieferant. Sie spricht Nepalesisch, ihr Ton ist geschäftsmäßig. Nasreen Sheikh, die Unternehmerin. Sie hat gelernt, Rückschläge wegzustecken.
Die Erde bebt
Es ist der 25. April 2015, das größte Erdbeben in Nepal seit 80 Jahren rüttelt Risse in Nasreen Sheikhs Wohnung und begräbt die Nachbarsfamilie unter ihrem Haus. Drei Nächte verbringen Nasreen, Maghar und Saheen in einem Armeezelt, mit Hunderten Menschen. Immer wieder vibriert die Erde. Dann fahren sie mit dem Taxi durch die Trümmerstadt, bis in den Vorort Goldhunga. Eisenstangen ragen aus einem einstöckigen Rohbau. „Unsere Zukunft“, sagt Nasreen Sheikh. Vor einem Jahr hatten sie begonnen, die kleine Nähfabrik zu bauen.
Eine Wand ist eingestürzt, Nähmaschinen liegen verteilt – mehrere tausend Euro Schaden. „Immerhin steht das Haus“, sagt Nasreen Sheikh mit fester Stimme. Ein Jahr später hat die Fabrik zwei Stockwerke. Zwanzig Näherinnen sitzen hinter Maschinen, schneiden Stoffe, bügeln. Da ist Babita Aryal, mit 16 zwangsverheiratet, nie eine Schule besucht. Und Kamla Dahal, mit 14 zwangsverheiratet, mit 17 das erste Kind. Oder Sunita Tamang, mit 15 zwangsverheiratet, das Haus vom Erdbeben zerstört.
Rund 100 Näherinnen haben Nasreen Sheikh und ihre Geschwister ausgebildet. Manche haben sich selbstständig gemacht, andere warten noch mit dem Kinderkriegen. Nasreen Sheikh ist stolz darauf, doch ungefragt spricht sie selten von sich. Die Haare trägt sie meist irgendwie, schminkt sich selten. Doch sie scheint es zu genießen, wenn sie in die staunenden Gesichter der Touristen in ihrem Laden schaut. Sie wiegt dann den Oberkörper hin und her und spielt geschäftig mit den Enden ihres Schals. Nicht nur der Wille zu helfen treibt sie an, auch der Wille erfolgreich zu sein. Zu zeigen: Auch eine nepalesische Frau kann es schaffen.
Durchstarten mit Crowdfunding
Zurück im Laden kramt sie einen Stapel Papier hervor. „Local Women, www.locwom.com, Nonprofit-Organisation“ steht darauf. „Mein neues Projekt“, erklärt sie. Eine bezahlte Nähausbildung für benachteiligte Frauen, wie bisher, mit Bildungszentrum und Gesundheitsklinik. „Ich will den Frauen auf allen Ebenen helfen. Sie lernen nähen, ihre Kinder gehen nebenan zur Schule, und die Klinik versorgt sie medizinisch.“ Konzentriert erläutert Nasreen Sheikh Struktur, Organigramm, Finanzierung. „Damit kann ich viel mehr Frauen helfen, weltweit.“ Sie war gerade in den USA, wo sie die Organisation angemeldet hat, Sponsoren gesucht, das Crowdfunding gestartet. Nasreen Sheikhs Traum: 100 Zentren in 20 Jahren. „Aber wenn es weniger sind, ist das auch okay.“
Sie bürdet sich viel auf mit dem Unternehmen, doch der Erfolg, das Neue, das Ausland locken. Dabei geht sie immer mehr davon aus, dass ihre Ziele auch die anderer sind. Maghar und Saheen übernehmen wie selbstverständlich immer größere Aufgaben im Unternehmen; Maghar managt die Fabrik, obwohl er gerne ins Ausland gehen würde, Saheen übernimmt den Laden, obwohl sie Krankenschwester werden möchte. Nasreen Sheikh weiß, wie sie andere überzeugt. Sie hat einen Plan, um den Frauen zu helfen. Für den gibt sie viel. Fordert aber auch viel von ihren Geschwistern.
Die zwanzig Seiten auf ihrem Schoß wiegen schwer. Auf den ersten Blick klingt das neue Projekt zu groß für die junge Frau. Doch hätte der Laden, den sie jetzt führt, damals im Grenzdorf, nicht auch größenwahnsinnig geklungen?
„Ich habe ein gutes Gefühl“, sagt Leslie St. John, mit dem sie noch immer Kontakt hält, am Telefon. „Nasreen kann das.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten