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Soziallobbyist über Nebenbeschäftigungen„Ein Job reicht nicht zum Überleben“

Immer mehr Menschen gehen neben der regulären Arbeit Nebenjobs nach. Ein Skandal, findet Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband.

Oft reicht ein Job nicht zum Leben Foto: dpa
Jörg Wimalasena
Interview von Jörg Wimalasena

taz: Die Zahl von Mehrfachbeschäftigten hat sich seit 2004 fast verdoppelt. Im März 2017 gingen laut Angaben Bundesagentur für Arbeit fast 3,2 Millionen Menschen einem Nebenjob nach. Wie erklären sie sich diese Zunahme?

Ulrich Schneider: Das überrascht mich gar nicht. Neun Millionen Menschen in diesem Land arbeiten im Niedriglohnsektor. Da reicht ein einzelner Job oft nicht zum Überleben. Auch durch erzwungene Teilzeit und die steigenden Mieten sind Menschen dazu gezwungen, Nebenjos nachzugehen. Mehr als 300.000 Menschen benötigen sogar mehr als einen Minijob zusätzlich, um über die Runden zu kommen. Das ist alarmierend.

Wer profitiert dann von Minijobs?

Mehrfachbeschäftigte

Rund 3,2 Millionen Menschen in Deutschland waren im März mehrfach beschäftigt. Das geht aus einer Erhebung der Bundesagentur für Arbeit hervor, die von der Linkspartei im Bundestag angefragt wurde. Mit 2,7 Millionen Betroffenen ist eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit mindestens einer zusätzlichen geringfügigen Beschäftigung die häufigste Kombination. Die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten ist demgegenüber von 5,2 auf rund 4,9 Millionen gesunken. Ebenso rückläufig ist die Arbeitslosenquote.

Die Betriebe. Geringfügige Beschäftigungen sind abgabefrei – so können Unternehmer Kosten sparen. An den Kassen von Discountern sitzen fast nur noch Minjobber. Bei vielen 450-Euro-Jobs fehlt eine Tarifbindung und Arbeitgeber versuchen Urlaubsregelungen zu umgehen. Um das mal klar zu sagen: Minijobs sind miese Jobs!

Welche Konsequenzen hat die Mehrfachbeschäftigung für die Betroffenen?

Wer zusätzlich zur regulären Arbeit einem Nebenjob nachgeht, für den wird die Zeitplanung zum Kunststück. Wer dann auch noch Kinder versorgen muss, lebt ständig an der Belastbarkeitsgrenze und geht häufig sogar noch darüber hinaus. Das macht krank. Dazu kommt die psychologische Belastung. Minijobs sind häufig befristet. Betroffene wissen oft nicht, ob sie in ein paar Monaten noch Arbeit haben.

Bild: Paritätischer Gesamtverband
Im Interview: Ulrich Schneider

ist Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes und Mitglied der Linkspartei. Im Februar erschien sein Buch „Kein Wohlstand für alle!?“ über die soziale Ungleichheit in Deutschland.

Minijob-Befürworter argumentieren, dass eine geringfügige Beschäftigung zu dauerhafter Anstellung führen kann…

Das ist empirisch widerlegt. Für Minijobber ist es schwieriger eine reguläre Beschäftigung zu finden, als für Arbeitslose. Nur etwa jeder fünfte Minijobber oder anders atypisch Beschäftigte schafft auf Dauer den Sprung in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Wie kann der Gesetzgeber der Zunahme von Mehrfachbeschäftigung entgegenwirken?

Wo es nicht um ein Zubrot zur Rente oder studentische Beschäftigung geht gehören Minijobs abgeschafft. Und es muss endlich einen anständigen Mindestlohn geben, der dafür sorgt, dass Menschen von ihrer Arbeit auch ohne Nebenverdienst leben können.

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11 Kommentare

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  • „Die Zahl von Mehrfachbeschäftigten hat sich seit 2004 fast verdoppelt. Im März 2017 gingen laut Angaben Bundesagentur für Arbeit fast 3,2 Millionen Menschen einem Nebenjob nach. Wie erklären sie sich diese Zunahme?“

     

    Gewinnmaximierung ist die oberste Maxime eines jeden Unternehmens und ist mit dem Sozialstaatsprinzip momentan nicht vereinbar. Volkswirtschaftliche Theorien über den Wohlstand usw. sind interessant aber vergessen eine der wichtigsten Erkenntnisse der Systemtheorie, nämlich der Umfeldbedingungen. D. h. die Gewinnmaximierung der Unternehmen muss an das Sozialstaatsprinzip in Deutschland besser angepasst werden. Politiker müssen das umsetzen.

     

    Ein konkretes Beispiel. Agenda 2010. Da haben die erfunden das jede Arbeit bei HARTZ IV zumutbar ist. Das ist verfassungswidrig gem. Art. 12 GG. Aber viele Menschen schaffen es gar nicht bis zum Bundesverfassungsgericht außerdem gibt es Eingliederungsvereinbarungen, einer der Zwecke von denen ist die Bestätigung per Unterschrift, dass man auf mehrere Rechte im Grundgesetz verzichtet (indirekt, wie bspw. mit Legitimierung der Sanktionen).

     

    Nun nutzen viele Unternehmen diese Agenda aus und zahlen z.B. sehr wenig Geld den Arbeitnehmern. „Jeder Job ist ja zumutbar.“

     

    Viele Vorstellungsgespräche verlaufen so, dass man danach gefragt wird, was der niedrigste Lohn ist, wo man bereit wäre, für das Unternehmen zu arbeiten. Dann wird noch Jobcenter als ein Druckmittel benutzt.

  • Minijobs sind doch nicht abgabenfrei. 30% müssen zusätzlich abgeführt werden, so dass die Gesamtlohnkosten bei 600,-€ liegen.

  • Mindestlohn hoch. Kein Thema.

     

    Andere Aussagen halte ich für unterstellend und oft auch nicht zutreffend.

    Die Minijobber die bei uns in der Firma arbeiten werden wie ich denke fair bezahlt; um die 13 €/h. Und das was die tun ist quasi Mädchen für alles; Ablagen, Reinigen, kuvertieren, Versand... das könnten die Hauptamtlichen letztlich nebenher mitmachen ohne Mehrstunden.

     

    Insofern von links die Pauschalaussagen "der UNternehmer profitiert" ist auch oft genug falsch. In vielen Fällen sind sich die UNternehmer ihren sozialen Aufgaben bewusst und daher werde ich so ein Interview (wie so oft) als sebstrechtfertigende Propaganda nicht ernst nehmen.

    • @Tom Farmer:

      Von einem eigenen Erlebnis auf das große Ganze zu schließen ist auch nicht grade das Wahre. Haben Sie z. B. schon mal Putzleute gefragt, die abends die Büros sauber machen, wie lange sie täglich arbeiten und was sie dafür bekommen? Ich mein jetzt nicht nur bei Ihrer Firma, da ist ja anscheinend das Fair-Paradies.

      • @Ute Krakowski:

        Das sind doch die beiden Punkte:

        Erstens: Nicht von einem auf alle schließen, macht der Herr Schneider, und deswegen ich halt auch.

        Zweitens: "Mindestlohn hoch" habe ich eindeutig geschrieben. Und auch Teil der Wahrhheit: Nicht jeden Minijobber kann man qualifizieren und in einen gut / besser bezahlten Vollzeitjob bringen.

  • 7G
    7964 (Profil gelöscht)

    Wer profitiert dann von Minijobs?

     

    Wir haben in der BRD 1,2 Millionen Millionäre. Nochmal: 1.200.000!

    Und es gibt etwa 15 Mio. Menschen, die sich mit ihren Arbeiten gerade mal irgendwie über Wasser halten. An Urlaub oder gar Familiengründung ist nicht zu denken.

     

    Sonst noch Fragen? Will niemanden aufhalten beim Arbeiten für Reiche...

  • Der moderne Sklave hält die Schnauze und arbeitet!

  • Wenn schon die "Soziale Partei Deutschland" solche Gesetze wie Hartz IV nicht einstampfen will, wer denn dann?

    Die Linken, wohl kaum! Da kommt auch nichts umsetzbares!

     

    Wenn sich hier wirklich etwas ändern soll, wird das nur über Streiks oder Demonstrationen gehen.

    Aber wer soll das organisieren, die Gewerkschaften?

    Dies Postenverteilmaschinerie wird sich wohl kaum wirklich mit den Arbeitgebern anlegen, der Grund wäre den Arbeitnehmer zu stärken, aber das wäre kontraproduktiv zu den besten Posten in den Aufsichtsräten, die gerne von den Gewerkschaftsvertretern genommen werden, sonst müssten diese vielleicht auch noch einen Zweitjob annehmen.

     

    Durch die Politikverdrossenheit der Deutschen gibt es keine einzige Institution welche sich wirklich hinter die Belange der Arbeitnehmer stellt.

     

    Keine Partei, keine Gewerkschaft fühlt sich so angesprochen, dass sie für den Arbeiter in diesem Land etwas unternehmen würde.

    Alles ist so absolut "Wischi Waschi" geworden, wahrscheinlich durch "Mutti Alternativlos", dass es sehr schwer geworden ist Themen wirklich auf eine Tagesordnung zu setzen, die nicht gleich von der Kanzlerin vereinnahmt werden und dann weichgespült unter den Tisch geworfen werden.

     

    Was wir brauchen ist eine zukunftsorientierte Alternative zu dieser Postenorgie verkommenen Regierung, die nur dafür sorgt, dass es ihrer Klientel gut geht.

    Wer das sein soll ist allerdings nicht absehbar.

     

    Mal schauen wie lange das Ganze noch funktioniert, wenn immer mehr Menschen morgens nicht Wissen, wie sie Abends den Tisch decken können!!!

  • Die Arbeitslosenquote, die 2005 in D noch verheerend hoch war, wird seitdem kontinuierlich jedes Jahr besser und ist mittlerweile überall im "grünen Bereich". Nur dass die Statistik des Statistischen Bundesamtes vermehrt Jobs enthält, die nicht mal *diesen* Namen verdienen, geht aus der so verbreiteten offiziellen Erfolgsgeschichte natürlich nicht hervor.

     

    Einfach: Man schaffe nur ein Klima der allgemeinen Existenzangst und Perspektivlosigkeit, sorge dafür, dass Arbeitskräfte gegeneinander ausgespielt werden können, gekoppelt mit staatlichen Zwangsmaßnahmen, und schon sind Arbeitskräfte so billig und willig wie nie zuvor. Das hat einen Namen, die Hartz-"Reformen".

  • 3G
    39167 (Profil gelöscht)

    In einem Land, in dem wir gut und gerne leben.

    Fragt da jemand noch ernsthaft wie es zum erstarken der AfD kommen konnte?

    Gerade im Osten sind viele davon betroffen, hinzu kommen noch die geringeren Löhne und die geringeren Renten.

     

    Da es politisch gesehen keine wirkliche Alternative gibt, die sich ernsthaft damit auseinandersetzt, haben sie wohl die braune Grütze gewählt und damit ihren eigenen Henker.

     

    Wenn ich mir die gesellschaftlichen Entwicklungen so anschaue, dann ist die oben genannte Entwicklung politisch gewollt. Zu keinem anderen Ergebnis kann ich kommen. Ich befürchte, auch aufgrund dessen, dass die braune Grütze jetzt im Bundestag sitzt, wird sich nichts Grundlegendes ändern.

    Außer dem üblichen Gequatsche wird sich nichts tun und d a s ist beängstigend.

    • @39167 (Profil gelöscht):

      So langsam nähern wir uns den US-amerikanischen Verhältnissen, wo die armen Menschen zwei oder drei Niedriglohnjobs haben, damit sie nicht verhungern.

       

      Kinderarmut, Rentnerarmut, 5 Millionen Hartz IV Empfänger und Millionen Niedriglohnsklaven - so sieht unser reiches Land Deutschland seit Jahren aus. Ein Land wo Manager Jahresgehälter beziehen, wofür eine Krankenschwester 300 Jahre arbeiten müsste.