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„Soziale Ungleichheit wie noch nie zuvor“

Am Sonntag wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt – die Opposition boykottiert. Das Land befindet sich in einer schweren ökonomischen und sozialen Krise, sagt der Soziologe Edgardo Lander

„Der Staat hat aufgehört zu funktionieren“, sagt Edgardo Lander. Essens­ausgabe einer privaten Armenküche in Maracaibo Foto: Gaby Oraa/reuters

Interview Jürgen Vogt,Buenos Aires

taz: Herr Lander, Hunderttausende haben in den letzten Jahren Venezuela verlassen. Wie geht es denen, die noch da sind?

Edgardo Lander: 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, 20 Prozent haben keine Sorgen. Das ist eine soziale Ungleichheit wie noch nie zuvor in unserer Geschichte. Dazu kommen die Unterernährung bei Kindern, die dramatische Verschlechterung des Bildungsniveaus oder das Wiederauftreten von Krankheiten, die verschwunden waren. Die Löhne im öffentlichen Sektor sind kaum noch etwas wert. Der Mindestlohn beträgt nur noch drei Dollar pro Monat. Der Staat hat aufgehört zu funktionieren.

taz: Wer sind denn die 20 Prozent ohne Sorgen?

Lander: Die traditionelle Wirtschafts­elite hat irgendwann erkannt, dass die politische Opposition ihr Versprechen, Chávez oder später Maduro abzusetzen, nicht würde halten können. Also begann sie, ein brüderliches Verhältnis mit den neuen Reichen und dem Militär aufzubauen, die einen großen Teil der Wirtschaft kontrollieren und davon profitieren.

taz: Was ist denn die Rolle des Militärs dabei?

Lander: Regierung und Militär sind seit Langem verschmolzen. Hugo ­Chávez war ein Militär und hat in allen wichtigen Gremien Offiziere eingesetzt. Maduro hingegen kam aus einer kleinen linken Partei ohne Verbindung zum Militär. Um jedoch dessen Loyalität zu gewinnen, gewährte er ihnen noch mehr Privilegien und Macht. Heute sind alle wichtigen staatlichen Unternehmen mit Militärs besetzt, die auch bei Korruption und illegaler Bereicherung eine zentrale Rolle spielen.

taz: Es heißt, dass man gut leben kann, wenn man Dollars hat. Stimmt das?

Lander: Ja, der Zugang zum Dollar ist entscheidend. Vor fünf Jahren beschloss die Regierung, die Preiskontrollen der Chávez-Zeit nach und nach aufzuheben. Gleichzeitig hat sie die Einfuhrsteuern schrittweise abgeschafft. Heute kann alles importiert werden, und man kann alles, wirklich alles, kaufen. Mit dem kleinen Problem, dass man dafür Dollars braucht. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keine.

taz: Am Betrug bei der Präsidentschaftswahl im Juli 2024 besteht kein Zweifel. Gab es dennoch einen Moment, in dem Sie dachten, Nicolás ­Maduro würde abtreten?

Lander: Nein, das war ausgeschlossen. Die gesamte Politik dieser Regierung ist darauf ausgerichtet, an der Macht zu bleiben. Aber sie haben nicht mit einer so schweren Niederlage gerechnet. Aus den von der Opposition veröffentlichten Protokollen geht hervor, dass das Ergebnis etwa 70 zu 30 Prozent gegen Maduro ausfiel. Eine Fälschung war schlicht nicht möglich. Also lösten sie einfach den Nationalen Wahlrat auf, erklärten Maduro zum Sieger und das war’s. Bis heute sind keine offiziellen Ergebnisse veröffentlicht worden

taz: In den Tagen nach der Wahl wurden viele Menschen willkürlich verhaftet. Wie ist ihre Situation?

Lander: Von den etwa 2.000 Verhafteten befinden sich viele noch immer in Gewahrsam. Heute gibt es mehr als 1.000 politische Gefangene. Viele sind unter sehr prekären Bedingungen und weit weg von ihrem Zuhause inhaftiert. Das Recht auf Verteidigung wird ihnen verwehrt. Viele der Verhafteten sind junge Menschen, die gegen Wahlbetrug protestiert haben. 14-Jährige werden beschuldigt, Terroristen zu sein. Ihre Mütter haben begonnen, sich in einem Kollektiv zu organisieren. Als „Mütter politischer Gefangener“ haben sie inzwischen einen sehr starken symbolischen Wert.

taz: Es wird oft behauptet, dass Venezuela von Kuba aus regiert wird. Stimmt das?

Lander: Kuba hat heute weniger Einfluss als früher. Die Entwicklung der staatlichen Sicherheitsstruktur, wie Polizei und Geheimdienste, basierte auf den kubanischen Erfahrungen. Und es wurde ein enormer Druck ausgeübt, um die Verstaatlichung der Wirtschaft voranzutreiben. Letztendlich kontrollierte der Staat einen großen Teil der Wirtschaft, der jedoch durch Ineffizienz und Korruption gekennzeichnet war. Ein großer Teil dieser verstaatlichten Wirtschaft überlebt nur dank der Subventionen, die aus den Ölexporten stammen.

taz: Kann denn die Ölexportwirtschaft das noch leisten?

Lander: Die tägliche Ölförderung ist von 3,3 Millionen Barrel auf zwischenzeitlich 300.000 Barrel gesunken. Derzeit liegt die Förderung bei 1 Million Barrel pro Tag. Für ein Land, das 90 Prozent seiner Deviseneinnahmen aus dem Ölhandel bezieht, ist das ein Kollaps. Der Wert der gesamten Wirtschaftsleistung beträgt nur noch 25 Prozent dessen, was er vor zehn Jahren war.

taz: Welche Rolle spielen bei diesem Niedergang die US-Wirtschaftssanktionen?

Lander: Die Sanktionen begannen während Donald Trumps erster Amtszeit und betrafen den Finanz- und den Ölsektor. Venezuela wurde der Zugang zu internationalen Krediten gekappt, einschließlich des Zugangs zu Sonderziehungsrechten beim Internationalen Währungsfonds. Venezuela hat Anspruch auf fünf Milliarden Dollar vom IWF, auf die es nicht zugreifen kann. Zudem konnte Venezuela seine Auslandsschulden nicht tilgen, da der Zugang zu einem großen Teil der von den USA kontrollierten Finanzsysteme gesperrt ist. Hinzu kommt der Einbruch im Ölsektor, der nicht nur auf mangelnde Effizienz und Korruption zurückzuführen ist, sondern auch auf die Sanktionen. Beides hat brutale wirtschaftliche Auswirkungen. Und jetzt hat Trump gedroht, alle Waren aus Ländern, die Öl aus Venezuela kaufen, mit Einfuhrzöllen von 25 Prozent zu belegen. Es gibt bereits Länder wie Indien, die erklärt haben, dass sie kein Öl kaufen werden. Das würde den Zusammenbruch dessen bedeuten, was von Venezuelas Ölhandel noch übrig ist.

taz: Wie reagiert das Regime?

Foto: Jürgen Vogt

Edgardo Lander

Geboren 1942 in Caracas, Venezuela. Der Soziologe und Linksintellektuelle ist inzwischen emeritierter Dozent an der Universidad Central de Venezuela sowie Fellow am Transnational Institute.

Lander: Zum Beispiel durch den Einsatz unerkannter Tanker, die ihr Identifikationssystem oder ihre GPS-Verbindung abschalten. Oder Tanker, die auf hoher See Öl von einem Schiff auf ein anderes umladen. Das Öl wird zu Preisen verkauft, die weit unter dem Marktpreis liegen, abgesehen von allen damit verbundenen kriminellen Risiken und Korruption. Es hat Fälle gegeben, in denen Tanker mit 800.000 Barrel Öl ­Venezuela verlassen haben, ohne zu bezahlen.

taz: Das klingt so, als ob das Regime gezwungen ist, illegalen Handel zu treiben.

Lander: Um zu überleben, muss es korrupt sein. Versetzen Sie sich in die Lage einer Regierung, die für die Versorgung der Bevölkerung verantwortlich ist, der dies aber gleichzeitig international verboten ist: Ihr bleibt nur der Handel mit illegalen, korrupten Unternehmen. Heute ist sie von einer internationalen Mafia-Wirtschaft abhängig.

taz: Warum rebellieren die Menschen nicht?

Lander: Weil sie dann umgebracht werden.

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