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Sommernacht-KonzepteKlanggewordener Winterschlaf

Es hat durchaus Vorteile, wenn der Abend früh und unerwartet losgeht: So kann man beizeiten ins Bett.

Schön warm war es in der C/O Galerie mit Musik und Drinks Foto: Jürgen Ritter/imago

A ls ich am Ostkreuz ankomme, bin ich beseelt, obwohl es sich bei diesem Bahnhof um einen richtig unwirtlichen Ort handelt. Zudem habe ich gerade zweieinhalb Stunden in rappelvollen Regionalbahnen verbracht. Doch die William-Kentridge-Ausstellungen, drei (!) Stück an der Zahl, für die wir einen 24-Stunden-Ausflug nach Dresden gemacht hatten, waren total super.

Gut, dass sie ein emotionales Polster geschaffen haben, denn die nächsten anderthalb Stunden werden herausfordernd. Weil die taz-Weihnachtsfeier in der Nähe stattfindet, gehe ich nicht mehr nach Hause. Besser wär’s gewesen. Dann hätte ich mir schnell 'ne Nudel gekocht, wäre satt bei der Party aufgeschlagen und hätte mich auf Gin-Tonic-Trinken und Plaudern konzentrieren können. Erstaunlich viele nette Ex-Kolleg:innen sind gekommen.

Gleich am Eingang warnt mich die Kollegin: „Gib die Jacke bloß nicht an der Garderobe ab, Essen gibt's draußen.“ Angeblich, weil letztes Jahr die Büffet-Schlange so lang war. Lang sind die Schlangen wieder, nur gibt es diesmal mehrere davon und man wartet in der frostigen Nacht. Wo dann die Beute, wenn man sie endlich gemacht hat, im Nu wieder kalt wird.

Dieses Konzept hat sich offenbar jemand in einer lauen Sommernacht ausgedacht. Der Kollege, der vor mir dran ist, lässt sich gleich zwei Portionen geben. Fast schon nachvollziehbar, schließlich verbrennt man allein schon beim Warten reichlich Kalorien. Leider waren das auch die letzten Portionen – zumindest für eine ganze Weile. Ein kaltes Getränk will ich nach der Aktion nicht mehr. Ein paar Punschbecher später wird der Abend dann doch noch ganz lustig.

Erst Sauna, dann Kunst

Fröstelig ist mir am nächsten Tag immer noch. Ich liege so lange in der Sauna, dass ich es fast nicht mehr zur verabredeten Runde durch die Fotogalerie C/O Berlin schaffe. Dort werden mit „Close Enough“ 12 Fotografinnen der Agentur Magnum ausgestellt. Auf dem Weg befürchte ich, nicht mehr reingelassen zu werden, schließlich ist gleich Feierabend.

Doch es kommt anders. Vor Ort großes Gedränge. Reinkommen erweist sich als unproblematisch, und dann drückt mir noch jemand Goodie Bag und Getränkegutschein in die Hand. Knalliger House lässt das Foyer brennen. Überhaupt liegt ein aufgeregtes Flirren in der Luft. Die eher jungen Gäste wirken aufgeregt und aufgebrezelt. Warum eigentlich? Die sind doch hier, um einen Film zu gucken. Co-Gastgeber ist der Streamingdienst Mubi; gezeigt wird „Working Girls“ von 1986, aus dem eigens für die Ausstellung kuratierten Filmprogramm. Passend dazu bekommen die Fotografien von Christina De Middel die größte Aufmerksamkeit.

Wie im Film geht es darin um Prostitution. Kun­d:in­nen von Sex­ar­bei­te­r:in­nen ließen sich (gegen Honorar) fotografieren und geben zu Protokoll, was sie dazu bringt, Sex zu kaufen. Vor den Bildern stehen die Leute dichtgedrängt und versuchen an denen vorbeizulinsen, die vor ihnen stehen – was zu schrägen Verrenkungen führt. Dabei sind einige der anderen Fotoprojekte fast spannender. Doch Leute gucken ist heute am allerergiebigsten. Für die Bilder kommen wir dann ein andermal wieder.

Anderthalb Stunden und einen köstlichen „signature aperitif cocktail“ später bin ich plattgebügelt. Es hat durchaus Vorteile, wenn der Abend früh und unerwartet losgeht. So kann man beizeiten ins Bett, wo es um diese Jahreszeit sowieso am schönsten ist. Eigentlich wollte ich ja ins House of Music, zur schönen Reihe Jazzexzess. Pünktlich zum Yarns Ensemble, dem zweiten Konzert des Abends, komme ich dann tatsächlich endlich auch dort an. Die Mu­si­ke­r:in­nen lassen ihre mäandernden Improvisationen introspektiv und meditativ vor sich hinköcheln. Das ist klanggewordener Winterschlaf – im besten Sinne.

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