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Solidarität mit Protestierenden in IranDa muss mehr gehen

Ja, im Oktober waren beeindruckende 80.000 Menschen in Berlin auf der Straße. Doch es braucht noch mehr Solidarität.

Solidarischer Protest am Großen Stern in Berlin Foto: picture alliance/dpa/Paul Zinken

D ie iranische Jugend streckt den Ayatollahs todesmutig den Mittelfinger entgegen. Und was machen wir? Wir zeigen dieser Jugend und ihren Unterstützern* unseren eigenen. Aber ja, im Oktober waren beeindruckende 80.000 Menschen in Berlin auf der Straße. Seitdem folgen weitere Kundgebungen, Mahnwachen und kreative Protestaktionen, immer mit dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadi“ (auf Deutsch: „Frau, Freiheit, Leben“). Come on, wer dabei war, weiß, der Großteil hat einen iranischen Background, zur Massendemo kamen sie aus ganz Europa. Also machen wir uns nichts vor, da geht noch mehr. Da muss mehr gehen. Lassen wir sie nicht allein!

Ohne jeden Zweifel: Der Support aus Teilen der Zivilgesellschaft, besonders aus Kunst, Kultur und Unterhaltung, ist episch, wahrscheinlich einzigartig, gerade deshalb braucht es mehr.

Ein zahlenmäßiger Multi-Wumms von der analogen wie auch digitalen Straße könnte da aufrütteln

Nicht an deren Stelle, sondern als Reaktionsbeschleuniger. Im Angesicht des iranischen Regimes mit seiner Niedertracht und der rapide wachsenden Bereitschaft für Hinrichtungen droht die Wirkung der bisherigen Solidarität zu verpuffen. Und, nun ja, im Angesicht der verstörenden Apathie unserer eigenen Regierung ebenso. Da könnte ein zahlenmäßiger Multi-Wumms von der analogen wie auch digitalen Straße aufrütteln. Es braucht die Massen, dauerhaft und wiederkehrend.

Experten mit iranischem Hintergrund, Exilant:innen, Menschen mit Angehörigen vor Ort, erzählen, solch eine revolutionäre Wucht habe es in den vergangenen 40 Jahren nicht gegeben. Es sei ein noch nie dagewesener gesellschaftlicher Schulterschluss, selbst Konservative verlören die Geduld. Zur Erinnerung: Wir sprechen von einem menschenverachtenden Regime im Namen des Allmächtigen. Hier geraten die Fundamente eines selbsternannten Gottesstaates mit globalen Tentakeln ins Wanken.

Eigentlich der feuchte Traum aller „Islamkritik“, die natürlich nichts gegen Mus­li­m:in­nen haben will, sondern nur etwas gegen Feinde der (Meinungs-)Freiheit. Eure Chance, das endlich mal zu beweisen. Wo bleiben die auflagenstarken Au­to­r:in­nen samt Anhängerschaft und ihr solidarischer Aufruf für die Iran-Proteste? Lediglich Henryk Broder äußert sich wiederholt und klar, wenn auch zum Teil lachhaft. Die Proteste dieses Ausmaßes hätten selbst Fachleute nicht für möglich gehalten, behauptet er. Check your experts, mate!

Vom Volke aus

Hier könnte das passieren, was sie echten und sogenannten Muslimen in der üblichen infantil paternalistischen Art (ja, diesen Widerspruch bekommen sie hin!) abverlangen: Im Iran geht der Aufstand vom Volk aus. Es gibt die Chance, eine Ideologie loszuwerden, die Israel von der Landkarte tilgen will, die Terror finanziert. Eine Staatsideologie, die als Regio­nalmacht Einfluss – eher Ausfluss – auf etliche Länder hat, dessen Folgen weltweit reichen.

Und spannend ist auch: Diejenigen, die die Mullahs erzürnen, sind in der Hauptsache keine Ideologen, keine stalinistischen Betonköpfe, Nostalgiker des Schahs oder Weg­be­rei­te­r:in­nen eines pseudodemokratischen „Persiens“ neoliberaler Prägung. Es ist die oft bemühte Gen Z.

Und wo seid ihr alle? Wo ist Facebooks „Free Iran“ fürs Profilbild? Wo sind die säkularen Muslim:innen, meine Brüder und Schwestern* im Geiste? Wo die selbstvermarkteten Ex-Muslim:innen, wo die Atheisten? Wo das versammelte Antideutschtum? Leute, stellt euch einen säkularen Iran vor. Hamdulillah!

Bleibt noch der Elefant im Raum: Realpolitik ist interessengeleitet, aber wer definiert die Interessen, wer sagt, es dürften nur wirtschaftliche sein? Was Interessen eines Landes sind, formuliert jeder und jede einzelne von uns mit. Seien wir doch mal ehrlich, der Elefant im Raum ist gar nicht mal so selten ein Elefant im Porzellanladen. Jin, Jiyan, Azadi!

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Bobby Rafiq
Jahrgang 1976, Südhang Hindukusch. Berliner Junge. Schon als Kind im Widerstand gegen Exoten-Bonus und Kanaken-Malus. Heute als Autor und Producer zu unterschiedlichen Themenfeldern journalistisch tätig. Für TV, Print, Online und Bühne. Und fast immer politisch.
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1 Kommentar

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  • Die Solidaritätsveranstaltungen sind tatsächlich überaus dünn gesät. In meiner Stadt gab es eine Kundgebung, die v.A. von Exiliraner*innen organisiert wurde, das stand immerhin in der Ortszeitung. Aber sonst, nix.