Solidarisches Grundeinkommen in Berlin: Die Nicht-Überwindung von Hartz IV
Das „Solidarische Grundeinkommen“ ist angelaufen. Erwerbsloseninitiativen halten die Idee des Regierenden Bürgermeisters für einen schlechten Scherz.
Vor einem der Eingänge zum Neuköllner Jobcenter in der Mainzer Straße steht eine Frau und verteilt stillschweigend Werbeflyer eines Anwalts. Am anderen Eingang in der Hermannstraße sprechen Mariam* und andere von der Gruppe Solidarische Aktion Neukölln mit eigenen Flyern Jobcenter-Besucher an. Auf einem Campingtisch, den sie mitgebracht haben, liegen Kaubonbons und noch mehr Flyer, vom Bündnis Zwangsräumungen Verhindern oder von Deutsche Wohnen und Co. Enteignen. Ihr eigener Flyer fragt in Knallgelb: „Das Jobcenter nervt?“
Zwar sind die Arbeitslosenzahlen in der Hauptstadt in den letzten zehn Jahren gesunken: 2009 lebten in Berlin noch 236.669 Arbeitslose, 2018 waren es 156.230. Das entspricht einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 14 auf 8,1 Prozent.
Doch für Mariam und ihre Gruppe hat jeder Einzelne von ihnen, der Hartz IV bezieht, potentiell Ärger mit dem Jobcenter. „Weil das Geld zu spät kommt, weil Sanktionen angedroht werden“, sagt Mariam. „Dabei brauchen die Menschen das Geld zum Überleben.“
Aber nicht nur die Solidarische Aktion Neukölln, auch die Sozialdemokraten in Berlin und der Republik wollen Hartz IV hinter sich lassen. Zumindest sagen sie das immer wieder. Letztere erhoffen sich davon, den Abstieg ihrer Partei aufzuhalten, ihr soziales Profil zu schärfen. In Berlin hat der Regierende Bürgermeister Michael Müller einmal sogar gesagt: „Hartz IV werden wir nicht von heute auf morgen abschaffen. Aber man muss mal irgendwo anfangen.“
Das Ende von Hartz IV?
Das Ende von Hartz IV möchte Müller konkret mit dem sogenannten Solidarischen Grundeinkommen (SGE) einläuten. Laut Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales sollen in diesem Jahr 250, bis Ende 2020 dann 1.000 Berliner eine gemeinwohlorientierte, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bei landeseigenen Unternehmen oder bei freien Trägern aufnehmen. Entlohnt werden sollen sie nach Tarif, mindestens nach Mindestlohn. Sie sollen in Schulen und Kitas bei der Essensausgabe helfen, als Hausmeistergehilfen der landeseigenen Wohnungsunternehmen oder als Mobilitätshelfer bei der BVG.
Die ersten beiden Verträge wurden im August bei der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft WBM und bei der Inklusionshilfe Kopf, Hand + Fuß abgeschlossen. Zielgruppe sind Menschen, die maximal drei Jahre arbeitslos sind. Vergangene Woche hat die Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Linke) mitgeteilt, dass mehr als 200 Berliner Arbeitgeber Interesse angemeldet und 1.800 Stellen eingereicht haben. Das Projekt dauert fünf Jahre und kostet das Land Berlin 200 Millionen Euro. Der Senat garantiert den SGE-Arbeitnehmern, dass sie danach im öffentlichen Sektor weiterbeschäftigt würden, falls sie nicht bei den landeseigenen Unternehmen bleiben könnten.
Anfang August hat das Pilotprojekt begonnen – und das im Vergleich zu den vorangegangenen Debatten darum weitestgehend unbeachtet. Das mag daran liegen, dass Müller zunächst auf bundesweite Verbreitung und einen größeren Stellenumfang gehofft hatte und darin enttäuscht wurde – weil sein Projekt mit dem „Teilhabechancengesetz“ von Bundesarbeitsminister und Müllers Parteikollege Hubertus Heil kollidiert ist.
Das Solidarische Grundeinkommen
Bis Ende 2020 sollen 1.000 Arbeitslose bei landeseigenen Unternehmen und freien Trägern arbeiten. Über 200 Arbeitgeber haben 1.800 Stellenangebote eingereicht. Eine ähnliche Beschäftigungsmaßnahme gab es unter Rot-Rot: Der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor ÖBS hatte von 2007 bis 2011 über 7.000 Stellen geschaffen.
Die Erwerbsloseninitiativen Die Solidarische Aktion Neukölln lädt jeden ersten und dritten Dienstag im Monat um 17.30 Uhr in die Friedelstraße 8 ein. Basta berät dienstags von 14 bis 17 Uhr, mittwochs von 10 bis 13 Uhr in der Schererstraße 8 und donnerstags von 18 bis 20 Uhr in der Weisestraße 53.
Letzteres gilt seit Jahresbeginn. Vom SGE unterscheidet es sich zunächst im Umfang: für 50.000 Arbeitsplätze – und hier auch in der privaten Wirtschaft – gibt der Bund in fünf Jahren Lohnkostenzuschüsse im Umfang von vier Milliarden Euro aus. Während Heils Vorstoß sich vor allem an Menschen richtet, die sechs oder mehr Jahre arbeitslos sind, zielt Müllers SGE auf Menschen ab, die mindestens ein Jahr und maximal drei Jahre arbeitslos gemeldet sind. In Berlin existieren nun beide Programme parallel.
Kein bedingungsloses Grundeinkommen
Dass Müller mit dem Namen seines Programms einen falschen Eindruck erweckt, ist ein weiterer Unterschied zu Heils Programm. Denn anders als „Solidarisches Einkommen“ suggeriert, handelt es sich um kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern um eine Art öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die keineswegs innovativ ist, sondern ähnliche Vorgänger hat. Als „Etikettenschwindel“ bezeichnet die Berliner CDU Müllers Pilotprojekt, wenn auch aus anderen Gründen als Erwerbsloseninitiativen.
Mariam von der Solidarischen Aktion Neukölln findet, dass Müllers Programm ein „Scherz“ sei. Das Solidarische Grundeinkommen sei weder solidarisch, noch ein Grundeinkommen, sondern eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, „weil es Jobs sind, die Leute machen, um dafür Geld zu bekommen“. Müllers Programm sei alles andere als eine „bedingungslose Existenzsicherung für alle“. Die Arbeitnehmer würden gar zu Bittstellern gemacht – obwohl sie ja „nicht netterweise etwas vom Staat bekommen, ohne dafür etwas zu leisten“.
Deswegen werden sie und ihre Gruppe auch weiterhin zwei Mal im Monat vor dem Jobcenter stehen und Betroffene ansprechen. Neben diesen spontanen Begegnungen treffen sich die Mitglieder zwei Mal im Monat in der Friedelstraße zum sogenannten „Anlaufspunkt“. Hier kommen Menschen hin, die Probleme mit dem Jobcenter haben und die Struktur der Solidarischen Aktion kennenlernen wollen. An zwei weiteren Tagen im Monat gibt es einen „Bürotag“, an dem Konkretes besprochen und organisiert wird: Antwortschreiben oder Begleitungen zum Jobcenter.
„Niemand soll mit seinen Problemen alleine sein“, fasst Sebastian*, ein anderes Mitglied, das Prinzip der Gruppe zusammen. Sie hat sich vor über einem Jahr aus Personen gegründet, die selbst sozialen Stress hatten, Konflikte mit Jobcenter, Vermietern oder bei der Arbeit. Das Kollektiv versteht sich als eines der gegenseitigen Unterstützung und des Wissensaustauschs, das offen ist für neue Menschen – aber nicht als klassische Beratungsstelle. „Wir sind keine Experten, aber gemeinsam haben wir viel Wissen“, sagt Sebastian.
Ursachen und Auswirkungen von Erwerbslosigkeit
An dem Montagvormittag vor dem Jobcenter Neukölln kommt ein Mann, der sich als Momo vorstellt. Er erzählt, dass er beim Jobcenter ein Darlehen beantragt habe, um Familienmitgliedern Flugtickets zu kaufen, die sich auf der Flucht aus dem kriegsgeschüttelten Jemen befinden. Nachdem deren Visa zu verstreichen drohten, habe er privat Schulden aufgenommen, um die Tickets zu bezahlen. Jetzt wolle das Jobcenter das Darlehen aber nicht mehr auszahlen. Momo packt einen vollgehefteten Ordner aus seinem Rucksack und sucht die Schreiben dazu raus. Er und die Solidarische Aktion haben sich vor dem Jobcenter kennengelernt, jetzt kommt Momo auch zu den Treffen in die Friedelstraße. Zwischen zehn und 15 Menschen treffen sich bei den Terminen der Solidarischen Aktion derzeit.
Auch die Erwerbsloseninitiative Basta aus dem Wedding versteht ihre Arbeit als Basisarbeit, das heißt: Die Beratungen, die sie drei Mal wöchentlich in verschiedenen Sprachen anbietet, versteht sie nicht als reinen Service. Vielmehr sollen die Beratungsgespräche einen Impuls dafür geben, sich zu organisieren, gemeinsam aktiv zu werden.
Claudia Kratsch, 59 Jahre alt, selbst erwerbslos, erzählt im Ladenraum von Basta in der Schererstraße, dass sich mittlerweile mehrere hundert Menschen im Kontaktpool der Initiative befänden. Davon seien knapp 50 aktiv, etwa bei Begleitungen zum Jobcenter oder auch bei Konfrontationen mit Vermietern. Jährlich, so die Initiative, berät Basta über 1.000 Personen und setzt Rechtsansprüche in der Höhe von 100.000 Euro gegen das Jobcenter durch.
Die Menschen, erzählt Kratsch, kommen nicht nur aus dem Wedding, sondern aus der ganzen Stadt. Arbeitslosigkeit versteht sie als systemimmanent: In einem ihrer Texte schreibt die Initiative, dass die Existenz von Arbeitslosen „Noch-Arbeitende“ unter Druck setzen solle – als permanente und drohende Erinnerung daran, dass letztere jederzeit ersetzbar sind. Ihnen gehe es deshalb darum, „die Ursachen und Auswirkungen von Erwerbslosigkeit politisch zu erarbeiten“, so die Initiative.
Spiel mit der Hoffnung von Armen
So erhofft sich Basta auch wenig von Projekten wie dem von Müller. „Die SPD versucht einen Begriff zu kapern, der für viele arme Leute mit Hoffnung verbunden ist: das Bedingungslose Grundeinkommen“, sagt Kratsch. Auch sie spricht von „altem Wein in neuen Schläuchen“, von einer Neuauflage der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. „Weil wir derartige Vorschläge kennen, diskutieren wir bei Basta wenig über solche Neuauflagen.“
Das Ende von Hartz IV bleibt beim Regierenden Bürgermeister Michael Müller also erst mal Rhetorik. Sebastian und seine Solidarische Aktion Neukölln wollen diesem mit öffentlich wirksamen Aktionen näherkommen. Sebastian war früher beim Bündnis Zwangsräumungen verhindern aktiv.
Er erinnert sich daran, wie unbekannt das Wort Gentrifizierung vor Jahren noch war. Heute ist es das Stadtthema schlechthin. „Weil es mittlerweile auch die Mittelschicht und die Journalisten betrifft, die Artikel darüber schreiben.“ Wer selbst nicht betroffen sei, dem falle die Empathie zwar schwer, so Sebastian. Trotzdem versucht die Gruppe weiter auf das Jobcenter und seine Betroffenen aufmerksam zu machen. 2015 hatten Zwangsräumung verhindern und Basta dem Jobcenter Neukölln mit einer Aktion vor Ort den „Goldenen Knüppel“ verliehen, um dessen repressive Praxis zu problematisieren. Für die Solidarische Aktion, die gerade neue Aktionen plant, dient das als eine Inspiration.
*Die Namen wurden von der Redaktion geändert
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