Situation in Libyen: Der Angriff, der alles veränderte
Nach dem Angriff auf internierte Migranten wollen viele das Land noch dringender verlassen. Die Boote der Schlepper werden immer voller.
Die Granateinschläge am östlichen Stadtrand von Wadi Rabia waren in der Fabrikhalle in Tajoura deutlich zu hören, in der seit 2014 616 Migranten und Flüchtlinge untergebracht waren. Östlich von Tajoura versuchen Haftars Truppen, die Küstenstraße zu erreichen und damit die Zwei-Millionen-Stadt Tripolis von den anderen Küstenstädten Misrata, Zliten und Khoms abzuschneiden. Die Milizen der drei Städte sehen sich als Erben der Revolution gegen Gaddafi und verteidigen die libysche Hauptstadt gegen Haftars „Libysche Nationalarmee“, hinter der sie das alte Regime wittern.
„Der aktuelle Krieg ist eine Fortsetzung von 2011“, sagt Mohamed al-Farasch, Freiwilliger des Roten Halbmonds in Tajoura: „Aufständische gegen Gaddafi-Anhänger, West gegen Ost, und so weiter.“ Er spricht langsam, ihm steckt der Schock noch in den Knochen, der Schock der Nacht des 3. Juli, als er in den rauchenden Trümmern der Fabrikhalle stand, in der gerade mindestens 44 Menschen gestorben waren.
Gezielter Raketenangriff auf Milizen
Auch al-Farasch suchte in roter Weste, Latex-Handschuhen und Mundschutz in den Trümmern nach Leichenteilen. Normalerweise behandelt der 26-Jährige Verletzte an der nahen Front. Aber in den letzten Wochen gingen immer wieder Granaten oder Raketen nieder, überrascht habe die Katastrophe niemanden, sagt er.
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat eine „Übereinkunft zur Seenotrettung“ gefordert. „Wollen wir zulassen, dass das Mittelmeer endgültig das Meer des Todes wird und wir wegschauen?“
Die neue EU-Kommission müsse eine „neue Initiative“ starten, um die Mittelmeeranrainer zu unterstützen, sagte der CSU-Politiker. Sie dürfe dabei „nicht länger auf ein Einvernehmen aller EU-Mitglieder warten“.
Zugleich forderte Müller einen sofortigen internationalen Rettungseinsatz für die Flüchtlinge in Libyen. „Notwendig ist eine gemeinsame humanitäre Initiative von Europa und Vereinten Nationen zur Rettung der Flüchtlinge auf libyschem Boden“, sagte der Minister. „Die Menschen in den dortigen Elendslagern haben die Perspektive, in den Camps durch Gewalt oder Hunger zu sterben, auf dem Rückweg in der Wüste zu verdursten oder im Mittelmeer zu ertrinken.“ (afp)
Denn die Halle liegt neben einem Militärgelände, das schon zu Gaddafis Zeiten von Einheiten des Innenministeriums genutzt wurde. Nun herrscht hinter den hohen Mauern die Athman-Miliz. Die Gruppe steht den Islamisten der Ansar Scharia nahe sowie dem Schura-Rat aus dem ostlibyschen Bengasi. Die Bengasi-Schura war Haftars Hauptgegner im dreijährigen Krieg in Bengasi und floh nach Haftars Sieg nach Tripolis.
Milizen wie Athman sind also Priorität für Haftars Luftwaffe. Ihnen galt der Angriff vom 3. Juli. Die Milizen haben aber auch Migranten aus Tajoura für Reinigungs- und Reparaturarbeiten eingesetzt, auch zum Ausheben von Schutzwällen, bestätigen westafrikanische Migranten der taz.
Die 100 Meter lange und 20 Meter breite Halle, in der die Migranten festgehalten waren, liegt am südlichen Ende des von einer Mauer umgebenen Komplexes. Die von einem Kampfflugzeug abgeschossene erste Rakete gegen zwei Uhr morgens verfehlte sowohl Milizen als auch Migranten und schlug in einem Gebäude 100 Meter weiter ein. Da das Geräusch des Flugzeugs weiter am Himmel zu hören war, versuchten viele Menschen, aus der Halle zu fliehen.
„So etwas habe ich noch nicht gesehen“
Es ist unklar, wer sie in dem Chaos zurückdrängte – die Miliz oder die auch auf dem Gelände stationierte Antimigrationspolizei des Innenministeriums. Doch Minuten nach der ersten Rakete zerriss eine noch größere Explosion die Nacht. Durch das Dach fiel ein Geschoss fast senkrecht in das südliche Ende der Halle, genau dort, wo Frauen und Kinder untergebracht waren.
Die Zahl der Toten wurde zwar offiziell mit 44 angegeben, doch viele Helfer berichten der taz, dass niemand weiß, wie viele es tatsächlich sind. Von vielen Opfern wurden nur Arme oder Beine gefunden. „Ich arbeite seit 2011 an der Front, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen“, so al-Farasch.
130 Menschen erleiden teils schwere Verbrennungen, sie irrten stundenlang über das Gelände, berichtet ein Migrant aus Eritrea der taz am Telefon. Dabei eröffneten Bewaffnete auf sie das Feuer.
Nun fordert das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR eine Untersuchung und die Identifizierung der Schuldigen, dazu die Einrichtung eines humanitären Korridors für Flüchtlinge und Migranten. Doch längst haben sich viele allein auf den Weg gemacht – an die Strände von Garabulli östlich von Tajoura oder Richtung Westen, nach Zuwara an der tunesischen Grenze.
Mehr und vollere Boote
Dort warten jetzt wieder Tausende auf die Abfahrt. Die Schmuggler kommen mit der Lieferung der Gummiboote, die aus der Türkei oder China über libysche Containerhäfen geliefert werden, kaum nach. Schon mit 110 Menschen sind die mit Holzbrettern verstärkten Boote hoffnungslos überladen. Nun zwingen die Schlepper bis zu 200 Menschen in die oft nur aus drei Luftkammern bestehenden, acht Meter langen Boote.
Mustafa al-Reeb trifft sie oft auf seinen Patrouillen. Der Kommandant der „Fezzan“, ein Schnellboot der libyschen Küstenwache, läuft mit seinen acht Kollegen aus, sobald es einen Notruf aus der Seenotrettungszentrale in Tripolis gibt. „Wir geben oft unseren eigenen Proviant und Wasser, um den Geretteten zu helfen“, erzählt er. „Bis zu 500 Menschen waren nach Rettungsaktionen auf unserem Schnellboot.“ Viele, die von der Fezzan in den letzten Monaten aus dem Meer gerettet wurden, kamen dann in das Migrantengefängnis in Tajoura.
Nach der Bombardierung des Lagers in Tajoura legen jetzt mehr Boote ab als vorher, meint al-Reeb. Viele fahren ohne Funkgeräte oder Kompass los. „Wen wir nicht finden, der hat keine Chance zu überleben. Ohne Wasser, ohne ausreichend Benzin und ohne Orientierung drehen die Leute nach zwei Tage auf dem Meer durch und durch Panik sinkt das Boot. Wir finden immer wieder Überreste solcher Unglücke.“
Der Angriff von Tajoura hat die Sicht der Entscheidungsträger in Tripolis auf Migration geändert. Libyens Innenminister Fathi Bashaga droht nun sogar, die Forderungen von UNO und humanitären Helfern zu erfüllen und alle 6.000 in Westlibyen gefangenen Migranten freizulassen, „da man nicht mehr für ihre Sicherheit sorgen kann.“
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