Silvester in Berlin-Neukölln: Der Sündenblock
Die High-Deck-Siedlung wurde letztes Jahr als Hotspot der Silvesterkrawalle verschrien – zu Unrecht, protestieren die Anwohner. Ein Besuch in der Nacht.
S üdlich der Sonnenallee in Berlin Neukölln befindet sich die berüchtigte High-Deck-Siedlung. Seit letztem Jahr Silvester ist dieser Wohnkomplex in aller Munde. Zumindest die Nachrichtenbilder von einem ausgebrannten Reisebus haben viele in Erinnerung. Genau dort, an der Bushaltestelle Michael-Bohnen-Ring, sind die Brandspuren auch ein Jahr später noch zu sehen. Auch das Werbebanner des kroatischen Restaurants Dalmatino hängt immer noch halb verkokelt an der Überbrückung.
Ibrahim Al-Khalil ist in der High-Deck-Siedlung aufgewachsen. Seine Eltern und er flüchteten 1993 aus dem Libanon nach Berlin. Zu dem Zeitpunkt war Al-Khalil grade mal drei Monate alt. Erst wohnten sie in der Erkstraße in Neukölln, dann mussten sie 2010 wegen der steigenden Mieten weiterziehen. „Uns blieb nichts anderes übrig und wir zogen in die High-Deck-Siedlung. Die Deutschen wiederum, die dort wohnten, die zogen nacheinander nach Brandenburg. Nicht alle, aber die meisten. Und so kamen immer mehr arabisch-stämmige Berliner in die Siedlung“, sagt Al-Khalil.
Es ist am 31. Dezember um 17.30 Uhr, als der erste Polizei-Helikopter über der High-Deck-Siedlung auftaucht. Polizeiwagen fahren über die Sonnenalllee, im Hintergrund sind vermehrt Böller zu hören. Es knallt und leuchtet. Stille. Dann noch mal. Und dann mehrmals hintereinander. Ibrahim Al-Khalil ist an diesem Abend als Vermittler unterwegs. Er hat sich selbst dazu ernannt: Vermittler zwischen Jugendlichen und der Polizei.
„Es ist mir wirklich sehr wichtig, dass nicht wieder mit dem Finger auf uns gezeigt wird“, erklärt er. Der Helikopter kreist immer noch über den Köpfen der Einwohner:innen. Ibrahim Al-Khalil wird von ihnen respektiert, er ist bekannt in der Nachbarschaft. Auch die Jugendlichen achten ihn.
Einer von ihnen ist der 23-jährige Ibo, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, er ist in der High-Deck-Siedlung geboren und aufgewachsen. „Assalem aleikum“ (Übersetzt: Der Friede sei mit dir), grüßt er Ibrahim Al-Khalil mit einem Handschlag und einer Umarmung. Ibo trägt eine Cappy, einen Carlo-Colucci-Pullover, schwarze Sneaker. „Ich bin ein ganz normaler Heranwachsender eigentlich, oder nicht?“, grinst Ibo, zieht an der Zigarette in seiner Hand und deutet mit einer Handbewegung auf sein Outfit. Ein Freund von ihm kommt dazu und wird ausführlich begrüßt. Auch er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen.
Beide unterhalten sich über den anstehenden Abend, aber beide glauben nicht, dass dieses Mal ein Bus oder ein Auto abbrennen wird wie letztes Jahr. „Außerdem haben wir dazu noch Fragen“, sagt Ibo, sein Freund nickt zustimmend. „Warum stand ein alter Reisebus über Nacht im absoluten Halteverbot? Also, das kann ja wirklich nicht Zufall sein. Es ist merkwürdig, weil noch nie hat ein Bus davor geparkt.“
Sein Freund ergänzt: „Ja, und es kommen auch Jugendliche aus anderen Bezirken, Hermannstraße, Kreuzberg. Hier kann man machen was man will, hier hat man Freiheit.“ Ibo nickt zustimmend und sagt: „Hauptsache, nicht vor der eigenen Tür kacken, wa? Und dann bleibt es an uns hängen.“
Der Helikopter kreist weiterhin über der High-Deck-Siedlung. Aber Ibo scheint sich daran gewöhnt zu haben. Er und sein Freund schütteln nur den Kopf, denn eine weitere Frage beschäftigt sie: „Wieso geben die so viel Kohle für diesen Abend aus?“ Ibo zeigt auf den Helikopter. „Das kostet doch bestimmt unendlich viel Geld, oder nicht? Ich verstehe das nicht.“ Warum wird das Geld nicht in Schulen gesteckt? Nicht in die Sozialarbeit? In die Jugendclubs? Diese Fragen beschäftigen Ibo und seine Freunde. Er führt fort: „Hier geht es doch nicht nur um die Sicherung des Allgemeinwohls, also ich meine, schaut doch mal in die Luft. Hier leben auch Kinder und viel wichtiger: Kriegsflüchtlinge. Die werden retraumatisiert oder nicht? Die kreisen hier über unsere Köpfe und kontrollieren. Aber was genau?“
Ibrahim Al-Khalil
Ibrahim Al-Khalil kennt die Bedürfnisse der Jugendlichen, er war selbst einer von ihnen. Er hat bei illegalen Geschäften mitgewirkt, als Staatenloser mit einer Duldung ohne Arbeitserlaubnis ist es schwer, einen vernünftigen Job zu finden, geschweige denn sich zu integrieren. Er war für sieben Jahre im Gefängnis. Heute ist er verheiratet und lebt mit seiner Familie im Berliner Bezirk Lichtenberg. Aber die High-Deck-Siedlung bleibt seine Heimat.
Er arbeitet in der Gastronomie und berichtet stolz: „Ich habe seit zwei Jahren eine Arbeitserlaubnis. Ich bin genau genommen staatenlos, ich bin Palästinenser, ich habe keinen Pass und deshalb kann ich eine deutsche Staatsbürgerschaft noch nicht mal beantragen.“ Es scheint so, als hätte Al-Khalil seinen Frieden damit geschlossen: „Das deutsche System ist schon so ausgelegt, dass du keine Chance hast“, sagt er. „Und aus einer Parallelgesellschaft heraus ist es ehrlich gesagt noch schwieriger, Gehör zu finden“, fügt Al- Khalil hinzu. Doch umso mehr möchte er sich nun für die Jugendlichen in der High-Deck-Siedlung einsetzen. Damit sie eben nicht das gleiche Schicksal erleiden wie er und wie viele vor ihm. Es sei attraktiv, schnelles Geld zu machen, vor allem, wenn man von der Mehrheit der Gesellschaft ausgeschlossen wird.
Viel schlimmer empfindet er die Ausgrenzung durch den deutschen Staat. „Wir wurden hier in der Siedlung untergebracht und seitdem werden wir vergessen“, sagt er. Auch, wenn Al-Khalil nicht mehr in der Siedlung wohnt, er ist viel dort. Seine Eltern sind noch weiterhin dort zu Hause. An diesem Abend ist es ihm wichtig, die Jugendlichen auf die Gefahren des Böllerns aufmerksam zu machen. Auch darauf, dass Polizisten und Feuerwehrmänner für die Sicherheit zuständig sind und keine Feinde.
Um 18.30 Uhr rücken auch die ersten sieben Polizeiwagen an, bauen ihre Basis auf, genau auf der Sonnenallee, genau an der Bushaltestelle Michael-Bohnen-Ring. Einige Menschen stehen dort und warten auf den Bus, einige sitzen einfach nur und trinken ein Softgetränk, es sind Jugendliche, Familien, Erwachsene. Deutsche, Migranten und Polizisten. Einer der Jugendlichen sagt zu seinem Freund, während er einen Schluck von seinem Softgetränk nimmt: „Ey, zum Glück sind es die Berliner Bullen. Hatte schon Angst, dass die aus dem Osten hierherkommen.“ Sein Freund zuckt nur mit den Schultern. Ihn interessiert eher, wann der Bus nun endlich kommt.
Die Polizisten steigen aus, besprechen sich untereinander, bereiten sich vor, ziehen ihre Helme auf. Nicht weit von der Bushaltestelle betreten sie ein Gebäude. Die Sonnenallee 334, dann den Michael-Bohnen-Ring 54. Sie kontrollieren, niemand aber versteht so richtig, was. Ibrahim Al-Khalil erklärt es so: „Die suchen wahrscheinlich nach Böllern, nach Pyrotechnik, nach dem illegalen Zeug eben. Anders kann ich es mir nicht erklären.“
Ibo und sein Freund sind ebenfalls dort, sie stehen vor der Nummer 334. „Das ist der sicherste Treffpunkt hier. Immer wenn jemand fragt, ja wo sollen wir uns denn in der High-Deck treffen, dann ist es immer die Sonnenallee Nummer 334. Ist einfach zu finden“, erklärt Ibrahim Al-Khalil. Ibo zündet sich eine Zigarette an, währenddessen patrouilliert die Polizei in der Siedlung. „Wenn alle sagen, es würde zu Ausschreitungen wegen des Nahostkonflikts kommen, dann ist das pure Provokation“, sind die Jungs sich einig.
„Hier geht es um uns in Deutschland, wir wünschten, die Gelder würden nicht ständig gekürzt werden, dann könnten eventuell die Sozialarbeiter:innen besser bezahlt werden und wir könnten an Workshops teilnehmen“, sagt Ibo. Sein Freund bestätigt und sagt: „Ja, zum Beispiel ein Workshop: Wie schreibe ich einen Rap-Song?“ Beide Jungs schauen sich grinsend an: „Ja Bruder, und Hilfe beim Führerschein. Das ist der Traum von vielen hier. Einen Führerschein haben“, sagt Ibo.
Durch die Kürzungen der Gelder kommt es immer wieder zu Schließungen von Jugendclubs, ihre Räume werden ihnen weggenommen, so empfindet es Ibo und auch sein Freund. „Wir haben keine Stimme, jeder redet über uns und jeder urteilt über uns, sie schauen uns alle auf die Finger, als würden wir jeden Tag Scheiße bauen, aber unsere Meinung zählt einfach nicht. Wir werden im Stich gelassen.“
Um 23.30 Uhr bereiten sich die Polizisten in der High-Deck-Siedlung auf Mitternacht vor. Sie bewaffnen sich mit ihren Schutzschilden. Draußen wird weiterhin geböllert und immer mehr Menschen befinden sich nun auf der Sonnenallee. Die Polizisten leuchten mit Taschenlampen auf die Leute. Sie kontrollieren. Ibrahim Al-Khalil ist bis jetzt zufrieden mit der Situation. „Es ist auf jeden Fall ein fröhliches Böllern“, sagt er. Immer wieder wird er von den Bewohner:innen und den Jugendlichen begrüßt. Kurz nach Mitternacht kommt es zu einem unkontrollierten Böllern auf der Überführung an der Ecke Sonnenallee/Michael-Bohnen-Ring. „Ich glaube, die Polizisten wollen das Böllern unterbinden“, beurteilt Al-Khalil die Situation.
Es beginnt das „klassische Räuber-und-Gendarm-Spiel“, so beschreibt Ibrahim Al-Khalil die Situation. Die Jugendlichen verschwinden in einem Gebäude, die Polizisten hinterher, aber kommen nach wenigen Minuten raus, ohne die Jugendlichen gefunden zu haben. „Die sind auf jeden Fall weg“, sagt Al-Khalil. Das Café Die Zimtschnecke wird geräumt, niemand weiß so wirklich, warum. Einer der Bewohner beschwert sich: „Was soll das? Ich versteh das wirklich nicht. Es ist doch nichts passiert, was wollen die?“ Und verabschiedet sich damit in das neue Jahr.
Ibrahim Al-Khalil versteht auch nicht wirklich, warum denn die Siedlung nicht zur Böllerverbotszone ernannt wurde. „Wenn man von großen Krawallen ausgeht, dann sollten die hier auch eine Böllerverbotszone einrichten, also vieles versteh ich echt nicht“, schüttelt er den Kopf.
Währenddessen kommt es zu Ausschreitungen in anderen Teilen von Berlin. Insgesamt wurden circa 300 Menschen in dieser Nacht vorläufig festgenommen. Viele wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz. Auch in der Böllerverbotszone am Alexanderplatz kam es zu Ausschreitungen. Es wird dort von Jugendlichen berichtet, die sich gegenseitig mit Raketen abgeschossen haben sollen. Es gab zudem bei der Polizei insgesamt 15 Verletzte. Dennoch sei die Nacht besser verlaufen als im Vorjahr.
Ibrahim Al-Khalil wird seit einem Jahr von einem kleinen Filmteam begleitet. Andreas Mücke-Niesytka ist der Regisseur, er wohnt seit 2019 in der High-Deck-Siedlung. Der brennende Reisebus letztes Jahr bewegte ihn dazu, einen Dokumentarfilm in der Siedlung zu drehen. Ein Porträt über die Bewohner und Bewohnerinnen. Seine Nachbar:innen sind eher ältere Menschen und die waren sehr verängstigt nach dem Vorfall letztes Jahr: „Wir sind hier sehr vielfältig. Wir sind eine riesige Gemeinschaft mit mehreren Nationalitäten“, sagt er.
„Die Berichterstattung stimmt leider nicht mit der Realität überein. Oft wird sogar gelogen. Die Öffentlichkeit bekommt dadurch ein ganz anderes und falsches Bild von der Siedlung. Aber es leben viele verschiedene Geschichten hier“, sagt Mücke. Und er ergänzt: „Es ist ein hausgemachter sozialer Brennpunkt, wo wir in einer Parallelwelt zusammen existieren. Die Leute dort haben Hoffnung, dass sie vielleicht irgendwann erhört werden, und unterstützen das Vorhaben von Andreas Mücke-Niesytka.
Um 03.30 Uhr geht der Abend langsam zu Ende. Hier und da sieht man vereinzelt noch Böller und Feuerwerke, aber die High-Deck-Siedlung wird zunehmen leiser. Und es brennt diesmal nichts. Die Polizisten rücken langsam ab und Ibrahim Al-Khalil ist zufrieden mit dem Verlauf des Abends. Dennoch ist er der Meinung, dass die Siedlung nächstes Jahr auch zur Böllerverbotszone gehören sollte. Und wünscht sich für das neue Jahr eine bessere Zukunft für die Jugendlichen der High-Deck-Siedlung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld