Sexuelle Revolution in Berlin: Die Luft war voller Sehnsucht
Viel Sex ist gleichbedeutend mit viel Glück: Diese Gleichung funktionierte schon in den 70er Jahren nur bedingt. Westberlin war ein Großversuch.
Macht viel Sex besonders glücklich und macht das vielfältige Angebot von Sex superglücklich? Dazu gab es eine Art unfreiwilligen Großversuch im West-Berlin der 70er und frühen 80er Jahre. Der hatte mit schlichten Zahlenverhältnissen zu tun.
West-Berlin war damals eine Art Losbude, bei der Frauen die größere Auswahl hatten, was das Angebot an Männern betraf. Der Grund war einfach: Junge Männer, die sich der Wehrpflicht entziehen wollten, gingen nach West-Berlin. Dort gab es keinen Wehrdienst. Die Folge war ein klarer Männerüberschuss, nicht nur an der Uni, sondern auch in Kneipen, Diskos und Bars. Frauen, die damals um die 20 Jahre und älter waren und ein paar optische Kriterien erfüllten, sahen sich einem Angebot gegenüber, das zum weiblichen Größenwahn hätte führen können, wenn es nicht auch ein bisschen unheimlich gewesen wäre.
„Man wusste halt nicht, ob man wirklich so gemeint war, als Person“, sagt eine Freundin in Erinnerung an diese Tage. Das Bierglas in der Hand, diskutierten Männer im Dschungel mit der Gesprächspartnerin gerne über Wilhelm Reich, Triebbefreiung und Charakterpanzer. Was ein zweideutiges Gefühl hervorrief. Das zweideutige Gefühl verstärkte sich, wenn einem der männliche Gesprächspartner im Laufe des Abends vorwarf, irgendwie zu „verkopft“ und zu „unlocker“ zu sein, nur weil man ein bisschen auf Distanz gegangen war.
Die Szenekneipe Dschungel war zuerst noch nicht in der Nürnberger Straße, sondern am Winterfeldplatz angesiedelt. Man ging mehrmals in der Woche hin, ein paar passende Klamotten an, Secondhand, vielleicht ein bisschen 30er oder auch 50er-Jahre-Look. Blondgefärbte Haare galten damals als prolo, hennarot war besser. Mini war okay, musste aber nicht sein. Es waren die Jahre nach Einführung der Pille und vor der Bedrohung durch Aids. Kurz: größtmögliche Freiheit. Eigentlich.
Sehnsucht nach Nähe
Aber zu ständigen Glücksgefühlen führte das keineswegs. Nicht, weil man sich als Objekt fühlte und irgendwie benutzt. So etwas ließ sich steuern, denn es gab auch jede Menge Männer, die nichts gegen menschlichen Kontakt einzuwenden hatten, auch jenseits von Sex. Die sensible Kombination aus Psyche und Physis vieler Männer ist ohnehin nur bedingt geeignet für schnellen Sex mit einer Unbekannten, was Sexualwissenschaftler als „Impotenz der ersten Nacht“ bezeichnen. Aber darüber redete man damals lieber nicht, obwohl das doch eigentlich für die Empfindsamkeit der Männer sprach.
Der Grund, warum viel Sex nicht unbedingt das Glückslevel steigert, deutet sich damit schon an: Wenn der emotionale Kontext fehlt, entsteht kein Gefühl von Nähe. Der französische Autor Michel Houellebecq schrieb zwar, Sex sei immer noch die beste Art, einem Menschen nahe zukommen. Das ist auch richtig, doch dazu braucht man einen Kontext. Dieser hat etwas mit Vorlauf zu tun, mit Phantasie und Hoffnung. Und schafft erst die Voraussetzung für das überwältigende Gefühl von Nähe, wenn eine Begegnung auf seelischer und körperlicher Ebene gelingt. Das ist Glück. Die Psyche ist überfordert damit, diesen Kontext bei ständig wechselnden Partnern herzustellen.
Hat die sexuelle Revolution die Kinder auf dem Gewissen? Oder ist die heutige Aufregung über frühere Pädophiliefreundlichkeit hysterisch? Die taz will das Damals nicht nur aus dem Heute verstehen. Und blickt deshalb mit einem Dossier zurück: Auf Wilhelm Reich, Befreiungsdiskurse und Kommunen-Experimente. Und auf das Erbe der Befreiung. Die Ausgabe im eKiosk.
Hatte man einen Partner getroffen, mit dem man länger zusammen bleiben wollte, war man damit beschäftigt, die Kombination von Sex, Verbindlichkeit und Freiheit auszuhandeln. Paare trafen gewagte Absprachen, über den Umgang mit Nebenbeziehungen.
Es gab Variante eins: „Wir führen eine offene Beziehung und müssen uns gar nichts erzählen.“ Was zur wechselseitigen Beobachtung führte und heimlichen Abgleichen, wenn der Partner noch jemand anderen hatte: „Muss ich jetzt den Ausgleich schießen?“ Manche Paare probierten Variante zwei: „Wir erzählen uns alles ganz genau über unsere Affären.“ Das war was für Masochisten und Voyeure. Nervenschonender war Variante drei: „Herunterspielen.“ Man erwähnte die Affäre, spielte aber deren Bedeutung gnadenlos herunter („hat sich nur so ergeben, wir hatten ganz schön was intus“). Wenn das alles nicht funktionierte, blieb noch Variante vier, das Modell 19. Jahrhundert: „Einfach die Klappe halten.“
Suche nach neuen Kicks
Oft checkte frau die Nebenbuhlerin einfach nur ab: Wenn man sich für die Heißere hielt oder einem der Lebenspartner dieses Gefühl gab – siehe Variante drei – dann war alles in Butter.
Das alles bedeutete immer auch Stress. Und der machte sich ohnehin gerne im Bett breit. Denn der gleichzeitige Orgasmus galt irrsinnigerweise eine Zeit lang als Merkmal einer harmonischen Partnerschaft und Zeichen von Sexyness auch bei Frauen. Nicht wenige Frauen glaubten damals ernsthaft, dass es ein Zeichen von Zurückgebliebenheit sei, wenn es bei ihnen mit dem vaginalen Orgasmus nicht so recht klappte. Alice Schwarzer wurde wohl auch deshalb von den Männern gehasst, weil ihre Propagierung des klitoralen Orgasmus für die Männer etwas mehr Mühe bedeutete.
Zum sexuellen Erfahrungsschatz, den man nach dem Diktat der Zeit auffüllen wollte wie ein Bankkonto für die Altersvorsorge, gehörte das Herumprobieren mit Praktiken. Hie und da tauchten Typen mit Peitschen und Fesseln auf. Aber durch Verhauen oder Gefesseltsein (in echt, nicht in der Phantasie) Lust oder Geborgenheit zu empfinden, das ist eine Fixierung, die man sehr früh in der Kindheit erwirbt und über die nur eine Minderheit verfügt. So einfach mit ein bisschen Spielzeug waren neue Kicks dann doch nicht zu haben.
Und irgendwann kam die Ermüdung. Manche Frauen gingen zum Tanzen lieber in die Schwulendisco Kleist-Casino oder trafen sich im Café Anderes Ufer am Kleistpark. Da hatte man seine Ruhe. Und fühlte sich im Bedürfnis nach einer Freundschaft, in der Sex nichts zu suchen hatte, bei schwulen Männern zeitweise besser aufgehoben.
Spazieren am anderen Ufer
Kein Wunder, dass sich manche Heterofrauen fragten, ob sie nicht vielleicht auch am anderen Ufer entlang spazieren sollten. Sie waren quasi als Probierlesbe in den Frauenbars Pour Elle und Die Zwei unterwegs. Man küsste sich und schwärmte. Und stellte fest, dass man sich als Heterofrau auch in andere Frauen verlieben, sich für sie begeistern, die körperliche Nähe genießen kann. Aber im Bett wirklich sexuell auf Frauen gepolt zu sein, ist eine andere Sache. Weswegen sich die dauerhaften Lesben eher nicht in vermeintlich bisexuelle Frauen verknallten. Sie wussten genau, warum nicht.
Mit dem Hereinbrechen der Aidsgefahr in den 80er Jahren war all das vorbei. Einiges kehrte zurück, was in Vor-Pillen-Zeiten zum Sex gehört hatte: die Angst, die Vorsicht, der Aufschub. Hinzu kam das Grauen, als mehr und mehr Namen schwuler Bekannter in den Todesanzeigen auftauchten.
„Aber am Ende ist man doch froh, dass man die Zeit erlebt hat“, sagt die alte Freundin aus dem Dschungel. Im Rückblick möchte man die 70er und frühen 80er Jahre nicht missen. Nicht, weil viel Sex viel Glück bedeutete. Aber man erlebte Vielfalt und gewann einen Einblick in Triebschicksale, inklusive des eigenen. Zum Triebschicksal gehören auch unschöne Verquickungen von Begehren und Verachtung, Abhängigkeit und Aggression. Manche Ambivalenzen sind immerhin einzuhegen, wenn man darum weiß.
Die Sensibilität war wichtig für die Phase danach, als der Sex wieder zum intimen Akt wurde und erneut einen emotionalen Unterbau erhielt. Praktischerweise passend für die späteren Lebensjahre.
Am Ende bleibt Respekt. Nicht nur vor dem Triebgeschehen, sondern auch vor den PartnerInnen in dieser Phase, die sich fair verhielten. Dass Respekt zwischen den Geschlechtern wichtig ist, war vielleicht ein wenig aus dem Blickfeld geraten in den 70er Jahren, als man im Dschungel mit der Weinschorle in der Hand herumstand, den Männerüberschuss um sich herum und die Luft voller Sehnsucht. „Hätten wir gern die Zahlenverhältnisse von damals wieder zurück?“, fragt die Freundin heute. Manchmal vielleicht. Aber nicht wirklich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind