Sexuelle Gewalt im indischen Sport: Kriminelle Ignoranz
Indische Ringerinnen protestieren gegen sexuelle Gewalt. Beschuldigt werden Trainer und der Verbandspräsident. Die Regierung schaltet sich ein.
Mit Indien-Flaggen in der Hand saßen vergangene Woche junge Ringer:innen auf dem bekannten Protestplatz in der Hauptstadt Delhi. Eine Anklage dieser Art gab es im indischen Sport bisher noch nicht: Angeführt von Vinesh Phogat, fordern die besten Ringer:innen des Landes den Rücktritt des Verbandsvorsitzenden, der zugleich Politiker in der Regierungspartei BJP ist. Es geht um sexuelle und psychische Gewalt. Zudem sollen den Sportler:innen Sponsorengelder vorenthalten worden sein.
Die Freistil-Ringerin Phogat, die bei der WM 2019 Bronze gewann, erklärte: „Die Ringerinnen wurden in den nationalen Camps von Trainern und auch dem WFI-Präsidenten Brij Bhushan Sharan Singh sexuell belästigt.“ Das passiere schon seit Jahren. Die 28-jährige fordert an der Seite von Kolleg:innen wie Sakshi Malik oder Bajrang Punia, die jeweils bereits olympische Medaillen gewonnen haben, die mächtigen Funktionäre heraus.
Phogat sagt, sie kenne mehrere Betroffene. Sie selbst wurde zwar nicht sexuell belästigt, habe aber Morddrohungen von Funktionären erhalten, nachdem sie Premierminister Narendra Modi (BJP) bei einem Treffen nach den Olympischen Spielen in Tokio auf die Probleme aufmerksam machte. Die Ringerin aus dem nordindischen Haryana fürchte um ihr Leben, sagte sie öffentlich und unter Tränen. „Ich habe fast zehn Jahre lang versucht, mit dem Verband zu sprechen und ihn dazu zu bringen, meine Probleme und die anderer Ringer zu verstehen. Aber niemand ist auch nur bereit, zuzuhören.“
Mit dem dreitägigen Sitzprotest in der Nähe des Parlamentsgebäudes konnte Phogat so viel Druck aufbauen, dass Sportminister Anurag Thakur (ebenfalls BJP) sie einlud, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Das Ministerium setzte die Aktivitäten der WFI am Wochenende vorläufig aus und kündigte die Entlassung von Spitzenbeamten an. Gleichzeitig setzte die Regierung ein Aufsichtsgremium ein, um Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs und finanzieller Unregelmäßigkeiten gegen den WFI-Präsidenten Brij Bhushan Singh zu untersuchen.
Eine Boykottdrohung
Der 66-jährige BJP-Abgeordnete Singh, der den Ringerverband seit 2011 führt, weist die Vorwürfe als „Verschwörung“ zurück. Zunächst beschuldigte er einen Industriellen, später einen Politiker aus der konkurrierenden Kongresspartei als Drahtzieher einer Kampagne. Singh wäre „bereit, gehängt zu werden“, wenn nur eine Ringerin den Vorwurf der sexuellen Belästigung beweisen könne.
Bislang ist die Identität der belästigten Sportlerinnen unbekannt, um sie nicht in Gefahr zu bringen. „Man werde die Namen der Betroffenen an die Ermittler weitergeben“, sagte Sakshi Malik. Die Ringer:innen hatten einen Boykott aller Wettkämpfe angekündigt, sollte Singh nicht abgesetzt werden.
Nachdem der Sportminister einlenkte, entspannte sich die Lage. „Ich danke der Regierung im Namen aller meiner Mitstreiter dafür, dass sie unseren Protest und unsere Forderungen ernst genommen hat“, sagte Bajrang Punia und betonte: „Unser Kampf richtet sich nicht gegen die Regierung. Wir alle kämpfen gegen den Verband und seinen Präsidenten.“ Er begrüßte die Zusage, dass der Vorfall innerhalb von vier Wochen untersucht werden soll. Bis diese abgeschlossen sei, werde WFI-Chef Singh sein Amt nicht ausüben, versprach Sportminister Thakur. Die Ringer:innen hatten in einem offenen Brief an den indischen olympischen Sportverband (IOA) gefordert, der Verband müsse sich neu aufstellen und künftig in Absprache mit den Ringer:innen geführt werden.
Spannungen zwischen Athlet:innen und dem Verband gibt es schon länger. Vinesh Phogat wurde etwa bei den Olympischen Spielen in Tokio verwarnt, da sie sich von ihren Teammitgliedern isolierte. Dabei wollte sie so die Gefahr einer Corona-Infektion verringern. Nachdem sie keine olympische Plakette gewonnen hatte, berichtete Phogat, sei sie so sehr gemobbt worden, dass sie Suizidgedanken hatte.
Vinesh Phogat sagte gegenüber dem Sender NDTV: „Es ist besser, einmal zu sterben, als jeden Tag langsam zu sterben. Wir können nachts nicht schlafen, weil wir keine Ahnung haben, ob wir an dem Wettbewerb teilnehmen werden oder nicht. Wir wissen nicht, ob diese Trainer und ihre Unterstützer etwas ins Essen mischen und wir bei der Dopingkontrolle positiv getestet werden könnten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens