Sexuelle Gewalt im Sport: Tennistrainer vor Gericht
Vor dem Bremer Landgericht muss sich ein 46-Jähriger verantworten, der in Bremerhaven Jungen gedrängt hatte, ihm Masturbationsvideos zu schicken.
Angeklagt ist der Mann wegen 100 Straftaten, die er in zwei Bremerhavener Tennisvereinen verübt haben soll. Die erste datiert auf das Jahr 2016. Der Angeklagte soll einen damals Elfjährigen so lange bedrängt haben, bis der ihm ein Video schickte, auf dem sein Geschlechtsteil zu sehen war. Er tritt mit einem weiteren Betroffenen als Nebenkläger auf.
Namentlich bekannt seien fünf Geschädigte, sagte ein Gerichtssprecher der taz, die zum Tatzeitpunkt zwischen elf und 17 Jahren alt gewesen seien; es handelt sich ausschließlich um männliche Kinder und Jugendliche. Die Taten soll der Angeklagte 2016 sowie zwischen 2018 und 2023 begangen haben. Medienberichten zufolge wurden die Ermittlungen aufgenommen, nachdem sich ein Jugendlicher seinen Eltern anvertraut hatte.
Es geht zum großen Teil um Masturbations-Videos, die sich der Tennistrainer von seinen Schützlingen aufs Handy schicken ließ. Dafür zahlte er teilweise sogar Geld, laut Anklageschrift im niedrigen zweistelligen Bereich pro Video. Für die Aufnahmen soll er genaue Regieanweisungen erteilt haben, deren Einhaltung er einforderte: „Halt dich in Zukunft an die Vorgaben.“ Er soll auch heimlich Aufnahmen in Duschen und Umkleiden gemacht haben, oft mit Fokus auf das Genital.
Die Ermittler:innen fanden zudem bei ihm Bildaufnahmen im dreistelligen Bereich, bei denen Kindern unter 14 Jahren sexuelle Gewalt angetan wird. Vereinzelt angeklagt sind auch Fälle, in denen er Jungen zwang, sich vor ihm auszuziehen und mit kreisenden Hüften zu tanzen. Einen Jungen soll er in der Dusche eingeschlossen und ihm gedroht haben, er komme erst wieder frei, wenn er tue, was von ihm verlangt werde.
Einem „richtigen“ Jungen passiert so etwas nicht
Im Gerichtssaal und gegenüber Fernsehjournalist:innen betonte der Anwalt des Tennistrainers, sein Mandant habe „niemand angefasst“. Der taz sagt dazu auf Nachfrage Volker Mörchen vom Bremer Jungenbüro, das von Gewalt und Missbrauch betroffene Jungen berät und unterstützt: „Viele denken, das sei weniger schlimm, aber für Betroffene macht es das nicht unbedingt leichter.“ Schuld- und Schamgefühle könnten auch entstehen, wenn es keinen Körperkontakt gab.
Allgemein sei es bei sexueller Gewalt mit digitalen Medien eine Belastung für Kinder und Jugendliche, dass sie oft nicht wüssten, wer die Aufnahmen gesehen hat, sagt der Therapeut. Sie hätten damit die Kontrolle über etwas sehr Intimes und Schützenswertes verloren. Gerade für Jungen wirke dieser Kontrollverlust besonders schwer: „Jungen lernen immer noch, dass sie stark und unabhängig sein sollen, ein ‚richtiger Junge‘ lässt nichts mit sich machen, was er nicht will.“
Das sei einer der Gründe, warum es vielen Jungen schwer falle, sich jemandem anzuvertrauen. Noch eine Besonderheit: War ein Mann der Täter, befürchteten manche Jungen, als „schwul“ zu gelten, wenn die sexuelle Gewalt bekannt würde, sagt Mörchen. Das könne Mobbing durch Gleichaltrige nach sich ziehen. Dass betroffene Jungen später selbst solche Taten begehen würden, sei zwar nur ein Mythos – aber doch ein weiterer Grund, sich nicht zu offenbaren.
Dabei sei das falsch, sagt Möhrchen: „Dass Opfer sexueller Gewalt diese als Erwachsene selbst ausüben, ist ein Narrativ, das gesellschaftlich weit verbreitet ist, weil einzelnen Tätern geglaubt wird, die solche Erfahrungen in der eigenen Kindheit als Entschuldigung für die selbst verübte Gewalt vorbringen.“ Wissenschaftliche Belege für diesen Kausalzusammenhang gebe es keine.
Vielen wird nicht geglaubt
Doch selbst wenn Kinder und Jugendliche sich trauen, über das zu sprechen, was ihnen geschieht, handeln Erwachsene zu selten in ihrem Sinne. Zu diesem Fazit kommen mehrere Studien, und darauf weist auch die Diskrepanz zwischen angezeigten Taten und der geschätzten Häufigkeit hin: In 16.375 Fällen ermittelte die Polizei im Jahr 2023 laut Polizeilicher Kriminalstatistik. Das Dunkelfeld soll um ein Vielfaches höher sein: Nach Befragungen hat in Deutschland jede:r Siebte bis Achte sexuelle Gewalt in der Kindheit erlebt, ein Drittel dieser Betroffenen soll männlich sein.
Auch Völker Mörchen vom Jungenbüro hat oft vor sich Jungen sitzen, denen lange nicht geholfen wurde. „Vielen wird nicht geglaubt, was daran liegt, dass die Täter begnadete Manipulatoren sind.“ Selbst wenn jemand verurteilt worden sei, zweifelten manche an, dass er die Taten wirklich begangen hat.
Die Täter seien meistens „(nach außen hin) nette, charmante Menschen mit hoher Reputation, die sich durch ihre Hilfsbereitschaft, fachliche Expertise und ihr stetiges Engagement unentbehrlich machen“: So heißt es in der 2022 veröffentlichten Fallstudie zu sexualisierter Gewalt im Kontext des Sports, herausgegeben von der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Darin lässt sich nachlesen, wie Strukturen und Kultur des Sports sexuelle Gewalt begünstigen. Und wie vielen Erwachsenen jegliches Bewusstsein dafür fehle.
Volker Mörchen, Berater beim Bremer Jungenbüro
So wurde auch der angeklagte Tennistrainer 2011 in einem Club-Magazin für seinen „besonders guten ‚Draht‘ zu den Kids“ gelobt. Der langjährige Vorsitzende des Tennisclubs Rot Weiß Bremerhaven, in dem der Angeklagte zuletzt tätig war, sagte 2023 zu Journalist:innen, dieser habe „einen ausgesprochen guten Job gemacht“. Er könne sich nicht erklären, warum nicht früher etwas aufgefallen sei. Und: „So etwas“ sei in seiner jahrzehntelangen Vereinsarbeit noch nie vorgekommen. Mit der taz wollte der Vereinsvorsitzende nicht reden, auch nicht darüber, wie der Tennisclub Kinder und Jugendliche in Zukunft besser schützen will.
Nachdem der Fall bekannt wurde, haben in Bremerhaven mehrere Sportvereine angefangen, Schutzkonzepte zu erarbeiten, darunter der TSV Wulsdorf, bei dem der Angeklagte ebenfalls gearbeitet hat. Solche Konzepte können zwar nicht für einen lückenlosen Schutz garantieren und nicht verhindern, dass Täter von einem Verein zum nächsten ziehen. „Aber sie machen ihre Spielräume enger“, sagt Volker Mörchen. „Und sie sorgen dafür, dass mehr Erwachsene für das Thema sensibilisiert sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!