Sexualisierte Gewalt durch Priester: Tricksereien statt Aufklärungswille
Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder in der katholischen Kirche stockt. Der Kölner Bischof Rainer Maria Woelki gerät nun unter Druck.
Nach der Eucharistie schritt der Kardinal, ganz in weiß gekleidet, zum Ambo neben einem Busch weißer Weihnachtssterne und fand Worte der Entschuldigung – oder das, was er dafür hält: „Was die von sexueller Gewalt Betroffenen und Sie in den letzten Tagen und Wochen vor Weihnachten im Zusammenhang mit dem Umgang des Gutachtens zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unserem Erzbistum, was Sie an der Kritik darüber und insbesondere auch an der Kritik an meiner Person ertragen mussten – für all das bitte ich Sie um Verzeihung.“
Das war sie, die „Entschuldigung“ des Kardinals: Der – je nach Betrachtungsweise – kirchenrechtlich höchstrangige katholische Geistliche der Bundesrepublik hat sich nicht für sein Versagen bei der Aufarbeitung des Skandals um die sexualisierte Gewalt an Kindern entschuldigt. Auch sein Vertuschen und das Abwälzen persönlicher Schuld verschwieg er.
Er hat sich dafür entschuldigt, dass seine wenigen verbliebenen Schäfchen Kritik ertragen müssen, weil sie noch bei ihm stehen. Es war ein kirchengeschichtlich einmaliger Vorgang, an Zynismus kaum zu überbieten.
Entsprechend hagelte es Kritik. Von den Medien, klar – aber die sind Woelki seit Langem sowieso egal. Die sonst schweigsam-loyalen Mitbrüder im Bischofsamt kochen hinter den Kulissen seit Monaten vor Wut. Kardinal Reinhard Marx aus München beurteilte Woelkis Verhalten als „verheerend für uns alle“. Der Limburger Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, nannte es „ein regelrechtes Desaster“, das „auf uns alle abfärbt“.
Ein Abstieg mit Ansage
Am härtesten aber war wohl die Kritik von Pastor Klaus Koltermann aus dem Seelsorgebereich Dormagen-Nord.
Koltermann, ein jovialer Mann mit BVB-Mantel und fast 28-jähriger Erfahrung als katholischer Priester, schrieb an das Lokalblatt Neuss-Grevenbroicher Zeitung in einem knappen Leserbrief: „Die Erstkommunionkinder lernen in der Hinführung zur Beichte den offenen und ehrlichen Umgang mit persönlicher Schuld. Nicht zuletzt geschieht dies über eine Gewissenserforschung und Reue“, und weiter: „Leider kann ich in den Worten des Kardinals nichts dergleichen erkennen. Damit wurde nun noch restlich vorhandene Glaubwürdigkeit verspielt.“
Tatsächlich ist die Glaubwürdigkeit des Kardinals am Ende. Es ist ein Abstieg mit Ansage. Als Woelki, 64, noch Erzbischof von Berlin war, von 2011 bis 2014, da umwehte ihn, trotz seiner Dissertation an einer Universität des erzkonservativen Opus Dei in Rom, noch ein Hauch von Aufbruch.
Er wohnte im eher schmuddeligen Wedding, wagte Gespräche mit dem Lesben- und Schwulenverband, kümmerte sich um Arme und Geflüchtete. Dann kam die Berufung nach Köln, als dortiger Erzbischof. Zurück in das große und reiche Bistum, in dem er unter seinem Vorgänger Joachim Kardinal Meisner Karriere gemacht hatte.
Lügen im Radio
Meisner war über Jahrzehnte der eiskalte Rechtsaußen der deutschen Kirche – reaktionär und papsttreu bis zum Erbrechen. Der kalte Krieger aus dem Stahlbad des DDR-Katholizismus hatte, ganz im Sinne Roms, aus seinem Bistum eine rechte Kaderschmiede gemacht: Woelki war unter Meisner bis 2011 Weihbischof am Rhein. Generalvikar war ab 2012 Stefan Heße, heute Erzbischof von Hamburg. Heiner Koch wurde 2006 Kölner Weihbischof, er folgte Woelki als Erzbischof an der Spree nach.
Obwohl mittlerweile klar ist, dass die ganze Bistumsspitze unter Meisner öfter mit (meist vertuschten) Fällen von sexualisierter Gewalt zu tun hatte, log er 2010 nach dem bundesweiten Aufkochen des Missbrauchsskandals im Deutschlandfunk: Er habe von den vielen Fällen „nichts geahnt, nichts geahnt! Ich habe mir das doch nicht vorstellen können!“
Ist Woelki ehrlicher? Acht Jahre nach Meisners Aussage verkündete er als dessen Nachfolger: „Unser Kölner Erzbistum wird sich der Wahrheit stellen, auch dann, wenn diese schmerzlich ist. Und dazu gehört es, ungeschönt und ohne falsche Rücksichten aufzuklären.“ Eine Kölner Studie sollte alles offenlegen.
Was folgte, war eine Tragödie. Im März 2020 sollte die Studie vorliegen. Aber das Bistum sagte die Präsentation kurzfristig ab. Offenbar hatte sich der Hamburger Erzbischof Heße hinter den Kulissen rechtlich gegen eine Veröffentlichung gewehrt. Wohl weil das Gutachten seine Zeit als Kölner Generalvikar unter Meisner – vorsichtig gesagt – negativ sah. Die Studie blieb unter Verschluss.
„Ein moralischer Tiefpunkt“
Dann im Oktober 2020 der nächste Schlag: Plötzlich erklärte das Erzbistum das Gutachten als „untauglich“. Es erfülle nicht die Anforderungen an eine unabhängige Untersuchung. Dabei berief sich Woelki auf eine wissenschaftliche Einschätzung zweier Juristen.
Schlimmer noch, die Missbrauchsopfer wurden für dieses üble Manöver benutzt. In einer Überrumpelungsaktion wurde dem Betroffenenrat des Erzbistums die Zustimmung abgerungen, dass nun ein neues Gutachten hermüsse. Es soll bis Mitte März 2021 fertig sein.
Und Woelki wütete weiter: Eine Recherche des katholischen Publizisten Joachim Frank wies nach, dass Kardinal Woelki 2015 den Verdacht gegen einen Düsseldorfer Priester wegen schweren Missbrauchs nicht an den Vatikan gemeldet hatte, obwohl er das laut Kirchenrecht hätte tun müssen. Der Grund: der Gesundheitszustand des Verdächtigen – übrigens ein Freund Woelkis. Außerdem habe es der Betroffene abgelehnt, erneut auszusagen. Das aber stimmte so offenbar nicht, stellte der Betroffene kurz danach öffentlich fest.
Der hoch anerkannte Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller schimpfte öffentlich: „Es ist ein moralischer Tiefpunkt erreicht – nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch.“ Der katholische Theologe: „Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht mehr: Was kann ein Kardinal noch tun, ehe er sich selbst aus dem Amt bewegt.“
Windige Anwälte
Auf die Tragödie folgte die Farce. Vor wenigen Wochen sollten ausgesuchte Journalisten in einem Hintergrundgespräch die unter Verschluss gehaltene erste Studie zu sehen bekommen. Zumindest die angeblich so gravierenden methodischen Mängel.
Zuvor aber hätten die anwesenden MedienvertreterInnen jedoch eine „Verschwiegenheitserklärung“ zu unterschreiben. Als die Journalistenschar dies verweigerte, wurde das Gespräch abgebrochen. Wieder eine Trickserei Woelkis.
Übrigens: Die Kanzlei, die für die Verschwiegenheitserklärung zuständig war, hat wohl bereits weitere umstrittene Mandate angenommen. Darunter etwa von dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie von der AfD, wie die Welt recherchierte.
Die Website der Kanzlei warb mit dem Versprechen: „Mit ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ vermeiden wir negative Berichterstattung schon im Vorfeld. Sollten wir sie nicht ganz verhindern können, mildern wir sie zumindest ab.“ Am Rhein kursiert die Einschätzung, die Beratung des Erzbistums durch angebliche PR-Profis und Anwälte habe schon Hunderttausende Euro gekostet.
Nach seinem Leserbrief in der Lokalzeitung erhielt Pfarrer Koltermann ein Schreiben vom Erzbistum. Darin wurde gedroht, seine Äußerungen stellten „möglicherweise schwerwiegende Verstöße gegen Deine Dienstpflichten als leitender Pfarrer“ dar. Und: „Diese Äußerungen können Maßnahmen nach sich ziehen.“ Sein Verhalten sei „nicht mit Deinen Loyalitätsobliegenheiten im seelsorglichen Dienst vereinbar“.
Nun aber kam Solidarität von der katholischen Basis. In einer Online-Petition, unterschrieben von Hunderten, heißt es: „Pastor Koltermann ist loyal gegenüber der christlichen Tugend der Glaubhaftigkeit und zeigt mit seiner Wahrheitsliebe wahre Verbundenheit mit der katholischen Kirche. Er wendet sich aber deutlich gegen das Kölner Vertuschungssystem Woelki.“
Und weiter: „Wir verwahren uns gegen diesen Versuch der Einschüchterung. […] Herr Kardinal, wenden Sie weiteren Schaden von der Kölner Kirche ab und treten Sie zurück.“ Ein medialer Aufschrei und ein höfliches Schreiben Koltermanns an das Erzbistum zeigten Wirkung. Vor wenigen Tagen erklärte das Bistum: Der Vorgang sei erledigt und werde „keine weiteren Schritte nach sich ziehen“.
Wie geht es nun weiter? Pfarrer Koltermann teilte der taz mit, für viele sei es klar, dass ein Rücktritt des Kardinals „erfolgen muss – das zeigen mir die unzähligen Briefe und E-Mails“. Es finde derzeit eine neue Vernetzung von Priestern und anderen pastoralen Kräften statt. „Es wird immer stärker das Verlangen ausgedrückt, furchtlos eine neue Gesprächskultur, Kommunikation schaffen zu wollen.“ Und er fügte hinzu: „Viele aus dem Klerus trauen es dem jetzigen Kardinal nicht mehr zu, dass er dieses Bistum noch glaubwürdig lenken oder führen kann.“
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