Sexualaufklärung in Kinderbüchern: Zwei Störche und ein Pinguinbaby
Bei sexueller Aufklärung geht es heute um viel mehr als zu erklären, wie Sex funktioniert. Viele Kinderbuchverlage haben darauf reagiert.
Heute wird über Sexualität differenzierter gesprochen als noch vor wenigen Jahren – auch mit Kindern. Doch wie klärt man am besten auf über Themen wie Gendersensibilität, moderne Familienbilder, Körperbewusstsein, sexuelle Orientierung? Wie vermittelt man Konzepte, die zu fassen so manchem Erwachsenen schwerfällt?
Das sind Fragen, auf die inzwischen auch der Büchermarkt für die junge Zielgruppe Antworten sucht. Mittlerweile gibt es jede Menge Aufklärungsstoff, der weit über die Grundlagen der Fortpflanzung hinausgeht. Sexuelle Aufklärung beinhaltet hier viel mehr als zu erklären, wie Sex funktioniert. Denn die Nachfrage ist da. Und viele Verlage haben das Potenzial erkannt.
Einer davon ist der Achse Verlag in Wien, in dem vor allem Kinderbücher erscheinen. Den jungen Leser:innen will man ein „diverses Programm mit feministisch-queerem Fokus“ bieten, sagt Verlegerin Teresa Mossbauer. „Unser Ansatz ist, je früher man mit vollkommener Normalität über diese ganzen Themen spricht, desto unkomplizierter wird es für alle.“ Wie genau man aber Kindern Sexualität erklärt, das gehen auch die Autor:innen der Branche ganz unterschiedlich an.
Zum Beispiel wenn es um das Thema sexuelle Orientierung geht. In „Papa Storch“ erzählt Paloma Schreiber die Geschichte der Vögel Edgar und Holger, die gemeinsam ein Pinguinbaby aufziehen. Die Autorin ist das Thema der gleichgeschlechtlichen Elternschaft „ganz intuitiv“ angegangen, wie sie sagt. Inspiration habe sie dabei aus dem realen Tierreich gezogen. Die Tatsache, dass Homosexualität in dem Buch zwar dargestellt, aber überhaupt nicht angesprochen wird, war für die Autorin eine natürliche Entscheidung: „Das gehört einfach zum heutigen Leben dazu“, sagt die studierte Künstlerin.
Ähnlich sieht das Stefan Timmermanns. Der Vorsitzende der Gesellschaft für Sexualpädagogik und Professor für Sexualpädagogik an der Frankfurt University of Applied Sciences findet es wichtig, dass das Thema der homosexuellen Partnerschaft nicht immer als etwas Besonderes präsentiert wird. „Aber“, schränkt er ein, „für manche Kinder ist das Thema natürlich völlig neu.“ Wenn dann Fragen oder sogar Ablehnung aufträten, müssten Eltern sich dem Thema sehr wohl widmen, statt es nur beiläufig zu erwähnen.
Beiläufig erwähnen oder explizit aufklären?
Den Weg der expliziten Aufklärung ziehen auch so manche Kinderbuchautor:innen vor. Zum Beispiel die des Buchs „Erbsenklein Melonengroß“, die in ihrer Erzählung bewusst auf Diversität aufmerksam machen. Die Geschichte von dem geschlechtsneutralen Kind Toni, das ein Geschwisterchen bekommt, dient dabei eher als Rahmen für Informationen. Im Vordergrund steht die Aufklärung. Auch hier geht es um nicht-traditionelle Familienbilder, aber genauso um die Vielfalt von Körpern, Sexualität und Geburtsmethoden. „Ich wollte, dass alle Kinder reinschauen können und sich abgeholt fühlen“, erklärt die Autorin und Sexualpädagogin Cornelia Lindner. Das hohe Maß an Inklusivität entsteht bei „Erbsenklein Melonengroß“ auch durch eine differenzierte Sprache. Sätze wie: „Wenn eine Person mit Penis und Hoden und eine Person mit Vulva und Uterus Sex haben“ sind zumindest in ihrer Formulierung komplexer als die gängige Kinderliteratur.
Das könnte man problematisch finden, zu schwierig für die jungen Leser:innen. Aber Stefan Timmermanns hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder häufig offen für derartige Begriffe sind und nachfragen, wenn sie etwas nicht verstehen. Allerdings hänge das insbesondere vom Umfeld ab: „Wenn Kinder zu Hause eine andere Sprache gewöhnt sind, dann werden sie sicherlich irgendwann abschalten, wenn zu viele unbekannte Begriffe verwendet werden“, sagt er. Für die Autorin Cornelia Lindner sind es die Erwachsenen, denen eine inklusive Sprache Probleme bereitet: „Für Kinder ist es eigentlich ein ganz klares Herunterbrechen auf das Wesentliche“, sagt sie. „Und das Wesentliche ist in diesem Zusammenhang, dass die eine Person einen Penis hat und die andere eine Vagina und einen Uterus.“
Auch die Autorin Katharina Schönborn-Hotter plädiert für explizite Aufklärung und eine klare Sprache. In dem Buch „Lina die Entdeckerin“ erzählen sie und ihre Co-Autor:innen die Geschichte eines Mädchens, das eine buchstäbliche Reise in das eigene Geschlechtsorgan unternimmt. Dazu gibt es Informationen über die Hygiene, Funktion und Bezeichnung der entdeckten Körperteile. Das Buch enthält komplexe Begriffe und ist dennoch kindgerecht erzählt, in Reimform und anhand von ausdrucksstarken Illustrationen.
Die Idee zu einem Kinderbuch, das die Vulva ins Rampenlicht stellt, entstand auch durch die sexualpädagogische Arbeit mit jungen Mädchen. Katharina Schönborn-Hotter erzählt von Workshops mit Teenagerinnen, die Bilder von Vulven als „grausig“ bezeichnet hätten. „Das ist doch irgendwie verstörend und schade, weil es ein selbstverständlicher Teil des Körpers ist“, sagt sie. Deshalb müsse Mädchen schon in der Kindheit ein schamloser Zugang zum eigenen Körper vermittelt werden. „Wir wollen niemandem verbieten, Koseworte oder Familienausdrücke zu verwenden“, sagt Schönborn-Hotter. „Gleichzeitig ist es wichtig, Begriffe einzuführen, mit denen man sich allgemein verständigen kann.“ Das sei auch bei der Kommunikation von Schmerzen entscheidend.
Aber wie viel Komplexität kann man Kindern – nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich – in Sachen sexueller Bildung zutrauen? Mehr als so mancher denkt, glaubt auch der Autor und Sexualpädagoge Carsten Müller. Mit seinem Sachbuch für Kinder „Von wegen Bienchen und Blümchen“, das im EMF Verlag erscheint, will er unter anderem einen Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt leisten – ein besonders sensibles Thema. Laut Müller geht es dabei vor allem darum, die eigenen Gefühle verstehen und einordnen zu können. Die Unterscheidung zwischen Schuld und Scham, die er Kindern dabei vermitteln will, ist zwar zielgruppengerecht formuliert, trotzdem aber nicht einfach zu greifen. „Das fällt vielen enorm schwer“, sagt Müller und spricht genauso von Erwachsenen wie von Kindern.
Auf Interessen eingehen
Genau deshalb sei es aber wichtig, dieses Thema und andere komplexe Zusammenhänge schon in der Kindheit zu besprechen, so der Sexualpädagoge: „Wenn ich als Kind Klavierspielen lerne, dann wird mir das deutlich leichter fallen, als wenn ich erst mit 40 damit anfange.“ Dennoch: Stefan Timmermanns weist darauf hin, dass nur wenige Kinder die Konzentrationsfähigkeit dafür hätten, ein solches Buch am Stück zu lesen. Auch der Autor Carsten Müller sagt, dass seine Kapitel so konzipiert seien, dass sie unabhängig voneinander angeschaut werden können.
Dasselbe gelte für die Bücher vom Achse Verlag, sagt die Verlegerin Teresa Mossbauer: „Wenn man das Gefühl hat, die ein oder andere Info ist noch zu kompliziert für das Kind, kann man die auch weglassen und dann vielleicht ein oder zwei Jahre später noch mal behandeln. „Es ist nicht so gedacht, dass man seinem dreijährigen Kind von A bis Z das Vulva-Kinderbuch vorlesen muss.“ Vielmehr solle auf das Interesse des Kindes eingegangen werden.
Generell, das betonen die Experten, gehe es bei der sexuellen Bildung vor allem darum, die Fragen zu beantworten, die sich Kinder ohnehin stellen. Auch wenn das Interesse dabei von Fall zu Fall unterschiedlich ausfalle, beschäftigen sich Kinder in bestimmten Altersgruppen auch mit Themen, die darüber hinausgehen, wie das Baby in den Bauch kommt. Zum Beispiel mit Geschlechteridentität. „Irgendwann taucht die Frage auf, bin ich wie die Mama oder bin ich wie der Papa?“, sagt die Autorin und Sexualpädagogin Katarina Schönborn-Hotter.
Für Kinder sei es ganz üblich, davon auszugehen, dass sie sich für ein Geschlecht entscheiden könnten. Laut Stefan Timmermanns kommt das Thema der geschlechtlichen Identität im Kindergartenalter auf. Die Frage der sexuellen Orientierung sei entwicklungspsychologisch in der Pubertät oder Vorpubertät verankert, wobei Formen des Zusammenlebens schon in der Kita oder Grundschule interessant werden könnten. Carsten Müller drückt es so aus: „Die Kinder machen diese Themen automatische zum Thema. Weil sie eben spannend sind.“
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