Sexismus in Deutschland: Es wird anders
Die Sexismusdebatte um Rainer Brüderle kann endlich zu dauerhaften Veränderungen führen. Auch weil die Debatte ohne Alice Schwarzer auskommt.
![](https://taz.de/picture/174760/14/aufschreichange.jpg)
Seit ich denken kann, frage ich mich, warum die, warum nicht wir? Warum bestimmen sie über uns? Warum sollen sie mehr wert sein? Als Kind war das die Frage, warum ein Junge die Brause aus der Flasche trinken darf, ich aber nicht. Als Jugendliche die, wie sie dazu kommen, unsere Schwangerschaften regeln zu wollen? Heute, warum sie die gleiche Arbeit besser bezahlt bekommen, die Männer?
Es ist zu spät, um jung und wütend zu sein. Ich muss mich damit abfinden, mittelalt und immer noch wütend zu sein. Aber: Es war noch nie so gut wie heute!
Denn es ist anders. Es tut sich was. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass nach diesem Kampf die Dinge anders sein werden. Gerade so, wie es in den 70ern gewesen sein muss. Nach Jahrzehnten der kleinen Schritte geht jetzt der Umbruch weiter. In ähnlicher Größe und Tragweite.
Der Anspruch auf Teilhabe, die Frage nach gleicher Bezahlung, die Wahlkampfthema werden könnte, jetzt die Sexismusdebatte – auch vor dem Hintergrund der Vergewaltigungen in Indien (ganz so, als gäbe es hier keine). Es ist, als flössen Seen zusammen. Einzelne Notstandsgebiete, bislang singulär verhandelt oder besser gesagt: abgesperrt. Jedes einzelne schwillt an, und sie alle laufen ineinander, zu einem über die Ufer tretenden Riesengewässer, das nicht aufzuhalten ist.
Solidarität unter Frauen
Vor einem Jahr haben Journalistinnen unter dem Motto „Pro Quote“ begonnen, Veränderungen in den Medien und Teilhabe an den Führungspositionen einzufordern. So schlagkräftig, dass sie Anfragen anderer Berufsgruppen bekommen, die die Kampagnenstrategie übernehmen wollen. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten ist eine Solidarität unter Frauen spürbar, die über die einzelne Berufsgruppe oder Schicksalsgemeinschaft hinausgeht. Und, auch das ist anders, Männer unterstützen die Forderungen. Vielleicht nur, weil sie nicht mit jemandem leben wollen, der als minderwertig gilt? Egal.
Dass die Debatte um Rainer Brüderle, in der der Politiker als Stellvertreter für Millionen von Männern steht, so groß wurde, ist dem Internet zu verdanken. Eine Initiative wie „#Aufschrei“ hat das ermöglicht.
Christian Jakubetz vom Cicero beklagt, dass durch „#Aufschrei“ „das Debattieren im Netz wieder ein bisschen unangenehmer geworden ist“. Für diesen Einwand kann man nur dankbar sein, denn er illustriert, warum es vielleicht so etwas wie das Internet brauchte, um der jahrhundertealten Forderung nach Gleichstellung zur Durchsetzung zu verhelfen: Das Internet befreit uns Frauen von der Hoheit der Männer über die Meinungsbildung.
Kein Stern, kein Spiegel, kein Günther Jauch hat etwa das Thema sexueller Belästigung in unserem Sinne aufgegriffen. Also aus Perspektive der Frauen. Und Günther Jauch hat am Sonntagabend gezeigt, was passiert, wenn Männer so tun als ob: Erneut geraten die, die „Stopp!“ sagen, in die Situation, sich rechtfertigen zu müssen.
Und alles ohne Alice Schwarzer
Das Erstaunliche ist: All das, was im Moment passiert, passiert ohne Alice Schwarzer. Und ich glaube, genau das ist der Punkt, warum sich eine solche Kraft entwickelt. Natürlich lädt eine Sendung wie „Günther Jauch“ reflexhaft Alice Schwarzer zum Thema „Sexismus“ ein. Und tatsächlich war bei Jauch kein Gast so gut wie sie. Sie kennt das Thema in allen Facetten und wird nicht mehr keifig.
Klar ist aber auch, die Veränderungen wären ohne sie undenkbar. Doch für das Großwerden dieser vielen Thematiken hat sie in den letzten Jahren keine aktive Rolle gespielt. Ich glaube sogar, dass dies die Chance war für die Themen, groß zu werden. Jahrelang war „Alice Schwarzer“ verbunden mit dem Herunterrauschen von Rollläden. Der Name fiel – und das Thema war tot. Der Name wurde zur Waffe der anderen, um Themen abzutöten, auch unter Frauen.
Die Emanzipation von Alice Schwarzer, die Entkopplung des Feminismus von ihrer Person ist der Schlüssel dazu, dass Frauen und Männer die Situation, in der wir – auch miteinander – leben, als so irrwitzig empfinden, dass sie sie tatsächlich ändern wollen.
Nennen wir den Kampf und die Errungenschaften der 70er Jahre die erste Umwälzung, hier kommt die zweite. Ich bin selbst erstaunt. Vor allem aber begeistert. Denn zum ersten Mal, zumindest in meinem Leben, ist klar: Hier wird etwas anders.
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