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Sexdiversity-Forschung in Lübeck„Ein gesellschaftlicher Lernprozess“

Im Forschungsbereich „sexdiversity“ der Uni Lübeck erforschen 27 Wis­sen­schaft­le­r*in­nen interdisziplinär die Bedeutungen des Körpergeschlechts.

Die Debatte ums Gendern ist ein Teil des Themas Sexdiversity: Protest-Plakat an der Filmhochschule in München Ende März 2024 Foto: dpa | Sven Hoppe

Hamburg taz | Was genau ist eigentlich das biologische Geschlecht? Und welche Folgen hat seine Kategorisierung? Es sind Fragen, die in Gesellschaft und Wissenschaft zurzeit vielfach und kontrovers diskutiert werden – denn viele Menschen lehnen Geschlechtskategorien jenseits von „Mann“ und „Frau“ weiterhin konsequent ab, oftmals mit der – inzwischen widerlegten – Begründung, dass es biologisch betrachtet nur zwei Geschlechter gebe.

Seit Anfang April befasst sich der neue Sonderforschungsbereich (SFB) „sexdiversity“ an der Universität zu Lübeck mit der Erforschung der Vielfalt des biologischen Geschlechts – interdisziplinär und „frei von ideologischen Scheuklappen“, erklärt Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter, Leiter der Stelle und Professor für Theorie und Ethik in den Biowissenschaften. Die DFG fördert die Stelle für vorerst vier Jahre mit knapp zwölf Millionen Euro.

Dafür erarbeiten insgesamt 27 Forschende aus Medizin, Biologie, Neuro-, Geistes- und Sozialwissenschaften in 17 Teilprojekten die naturwissenschaftlichen und soziokulturellen Bedeutungen des Körpergeschlechts und dessen Auswirkungen. So untersucht das Projekt „Überwindung der Binarität des Geschlechts in genetischen Studien“ die wissenschaftliche Idee, das biologische Geschlecht als Spektrum und nicht als binäre Kategorie zu betrachten. Die Leitung des Sonderforschungsbereichs übernimmt die Universität Lübeck, beteiligt an der Forschung sind aber auch das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und die Christian-Albrecht-Universität zu Kiel.

Über wissenschaftliche Grenzen hinweg

„Sexdiversity“ ist damit vermutlich die weltweit erste Forschungsstelle, die das biologische Geschlecht so facettenreich erforscht. Und das wurde auch längst Zeit: „Viele trans*, inter* und nicht-binäre Menschen (TIN) haben ein sehr gebrochenes Verhältnis zur Medizin, weil sie über Jahrzehnte hinweg einem Geschlecht einfach zugeordnet, übergangen und nicht anerkannt wurden“, sagt Rehmann-Sutter. „Wir sehen in unserer Forschungsstelle die Chance, aus der Vergangenheit zu lernen und die Medizin künftig so zu gestalten, dass sie Betroffenen hilft und bessere gesellschaftliche Strukturen entstehen.“ Außerdem sei es wichtig, das Körpergeschlecht auch als Teil der eigenen Identität zu verstehen, mit der Menschen Erfahrungen machen und Beziehungen eingehen.

Die einzelnen Projekte werden nach dem Bottom-up-Prinzip erarbeitet und von einer Steuerungsgruppe begleitet – so soll garantiert werden, dass die Zusammenarbeit über die wissenschaftlichen Grenzen hinweg erfolgt.

Dabei sieht der Institutsleiter die Kunst vor allem darin, „die Zusammenarbeit auch für Medizin und Naturwissenschaften erfolgreich zu organisieren, so dass die interdisziplinäre Arbeit auch in Zukunft weiter verfolgt wird.“ Denn bisher hatten es insbesondere die Genderstudies schwer, von ihnen anerkannt und integriert zu werden.

Gleichzeitig könnte der Standort des neuen SFB in Deutschland nicht besser gelegen sein: Die Lübecker Universität forscht bereits seit Jahren zu den Varianten der Geschlechtsentwicklung, wodurch sie reichlich Expertise bereitstellen kann.

Außerdem möchte „sexdiversity“ den Universitätscampus strategisch einbeziehen: „Wir wollen Studierende und Betroffene einladen, sich an den Formulierungen der Fragestellungen zu beteiligen und klarmachen: Es ist sinnvoll, sich für sich selbst zu engagieren“, betont Rehmann-Sutter.

Zwar gestalte sich der Diskurs über das biologische Geschlecht zurzeit noch sehr schwierig, aber es sei auch die Aufgabe der Stelle, offen für verschiedene Perspektiven zu sein und sie aufzunehmen. „Wir befinden uns im Moment in einem gesellschaftlichen Lernprozess. Daran möchte sich der neue Sonderforschungsbereich konstruktiv und sachlich beteiligen.“

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1 Kommentar

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  • "Es sind Fragen, die in Gesellschaft und Wissenschaft zurzeit vielfach und kontrovers diskutiert werden – denn viele Menschen lehnen Geschlechtskategorien jenseits von „Mann“ und „Frau“ weiterhin konsequent ab, oftmals mit der – inzwischen widerlegten – Begründung, dass es biologisch betrachtet nur zwei Geschlechter gebe."

    Das sind zwei Sachen, die nichts miteinander zu tun haben und in eine Falschaussage münden.

    Wie viele "Geschlechtskategorien" es gibt, ist sozial definiert. Für diese Festlegung ist es völlig egal, wie viele biologische Geschlechter es gibt - eine hypothetische Welt mit einer Million biologischen Geschlechtern und nur zwei Geschlechtskategorien ist ebenso möglich wie das Gegenteil. Wer also zusätzliche "Geschlechtskategorien" mit dem Vergleich auf das biologische Geschlecht ablehnt, redet am Thema vorbei.

    Ebenso richtig ist jedoch: Es gibt nur zwei biologische Geschlechter, weil es beim Menschen nur zwei Arten von Keimzellen gibt. Das ist völlig unstrittig und wird auch, nach allem was ich gelesen habe, von dem SFB "sexdiversity" nicht bestritten. Was diese vielmehr postulieren, ist, dass ein strikt(!) binäres Geschlechtermodell nicht die gesamte Vielfalt des biologischen Geschlechtes abbildet, weil es Variationen gibt, die nicht "sauber" in eines der biologischen Geschlechter passen (man spricht, etwas veraltet, oft von "Intersexualität"). Warum dies jedoch, auch von den Protagonist*innen des SFB, im Zusammenhang mit Transidentität gesetzt wird, ist mir nicht klar, denn die meisten Transmenschen sind nicht inter, und die meisten Interpersonen sind nicht trans (dem eigenen Verständnis nach).