„Selfies“ bei Beerdigungen: Knutsch. #Funeral
Schmollmund, Victory-Zeichen: Jugendliche posieren auf Beerdigungen und posten diese Selbstporträts im Netz. Ist das noch normal?
Ein älterer Herr liegt auf einem weißen Kissen, seine Augen sind geschlossen. _countrygirl12 hat das fotografiert und auf die Foto-Plattform Instagram gestellt. „Ich liebe dich Paps, du wirst von vielen vermisst“, schreibt sie dazu. Es ist das Bild ihres aufgebahrten Großvaters.
Im Bad, im Wartezimmer, auf dem Pausenhof, beim Autofahren: Jugendliche machen Schnappschüsse von sich selbst, ein sogenanntes Selfie, und stellen es ins Netz. In sozialen Netzwerken wie Twitter, Facebook oder eben Instagram sind die Fotos für jeden sichbar. Beliebte Gesten: das Victory-Zeichen, aufgerissene Augen, Knutschmünder, Schmollmünder. Ein Hashtag, ein vorangestelltes Doppelkreuz, macht ein Wort zu einem Schlagwort.
Das Schlagwort #Funeral sammelt Beerdigungs-Selfies: Selbstporträts auf Beerdigungen. Auf der Internetseite Hashtagfuneral etwa stemmen Frauen im kleinen Schwarzen die Hände in die Seite, die Haare schön, das Sakko sitzt. Ausgestreckte Arme im Bild vor posierenden Kussmündern.
Was spricht gegen die Currywurst? Viel, findet Deutschlands einflussreichster Gastrokritiker, Jürgen Dollase. Was 1968 damit zu tun hat, dass die Deutschen beim Essen so kleinbürgerlich sind, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23./24. November 2013 . Darin außerdem eine Geschichte zum Totensonntag: Ein Sohn nimmt Abschied von seiner Mutter, indem er ihre Gefrierschränke abtaut. Und der sonntaz-Streit: Die Energiekonzerne bangen um ihre konventionellen Kraftwerke – und prophezeien einen Engpass. Ist der Strom-Blackout Panikmache? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ich liebe mein Haar heute. Hasse, warum ich aufgebrezeelt bin. #Funeral. Mein ganzes Make-up ist verheult, so eklig, aber #Funeral. Das ist ein Beerdigungs-Selfie. Komme ich in die Hölle ((ja))?
Das Selbstporträt in sozialen Netzwerken ist nichts Neues. Schon 2004 existierte das Schlagwort #Selfie auf der Foto-Plattform Flickr. Aber dass Jugendliche Selbstporträts auf Beerdigungen schießen und hochladen, mit Kommentaren, die zumindest befremdlich wirken – das ist ein neues Phänomen.
Die Jugendlichen suchen Beachtung – und bekommen diese bei Gleichaltrigen. Sie machen Fotos von ihrem Outfit, das sie sich für die Zeremonie angezogen haben: Vorher-Nachher-Fotos. Die Bilder sollen Coolness demonstrieren: Sie sind trotzig, trotzen dem Tod, und das soll die ganze Welt sehen. Mehr Klicks, mehr „Gefällt mir“, mehr Kommentare. Sie inszenieren sich als Teil einer Szene, einer Gemeinschaft. So wie Jugendliche, die als Gothik-Anhänger, Punker oder Hip-Hopper herumlaufen.
Anne Smith ist Sterbeforscherin am Ramapo College in New Jersey. Sie beschäftigt sich mit der Relevanz des Internets für Jugendliche, die mit Verlust umgehen müssen. Die Inszenierung auf den Fotos sieht Smith nicht negativ. „Ja, ich glaube sie wollen Aufmerksamkeit haben, aber voneinander“, sagt sie. Und ist sich sicher: „In Zukunft werden die Heranwachsenden Wege finden, Grenzen zu ziehen und eine Etikette entwickeln.“ Das Bedürfnis nach dem Gesehenwerden, der Wettbewerb um Likes und Klicks: weniger Suche nach Selbstbestätigung als vielmehr eine andere Art des Handgebens auf Beerdigungen. Die Jugendlichen suchen digitale Trostspender.
Das ist doch nicht normal! Oder doch? „Ich glaube, wir müssen vorsichtig darin sein, diese Praktik zu verurteilen“, sagt Sterbeforscherin Smith. „Diese Generation unterstützt sich, zeigt Emotionen. Der Weg, wie sie das machen, mag für Erwachsene und Außenstehende verwirrend sein.“ Die Jugendlichen bewegen sich selbstverständlicher auf Twitter, Facebook und Co. als ihre Eltern. „Und das Umfeld, in dem sie kommunizieren, ist auch das Umfeld, in dem sie trauern“, sagt Smith.
Jugendliche teilen alle möglichen Details – und Beerdigungen sind ein Teil davon, neben Fotos von der Ausbeute des letzten Shopping-Trips, vom Weihnachtsessen mit der Familie, der Silvesterparty. „Die Frage ist doch“, sagt Smith: „Was bedeutet es ihnen? Finden sie Unterstützung und Trost darin?“
Während die Trauergemeinde bedröppelt guckt, grinst eine Frau im weißen Kleid in ihre Handykamera. Nach Trauer sieht das nicht aus. Könnte es aber durchaus sein, sagt Christian Schneider, Sozialpsychologe aus Frankfurt. „Eine geliebte Person ist jetzt weg. Nun muss der Trauernde neu organisieren, dass diese Person fehlen darf.“ Also lenkt er die Konzentration auf sich selbst, um der Trauer zuvorzukommen.
Die amerikanische Trauerforscherin Heather Servaty-Seib ist Professorin an der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der Purdue Universität im US-Bundesstaat Indiana. Sie hat Heranwachsende nach ihren Erfahrungen mit Beerdigungen gefragt. Eine anonyme Antwort: „Alles, was ich dachte, war: Sein Leben ist zu Ende, er wird nie wieder die Sonne sehen, den Schnee fühlen. Davor fürchte ich mich, ich werde eines Tages auch dort liegen, alleine unter der Erde.“
Menschen können sich den Tod nicht vorstellen, also schieben sie ihn weg. Die Fotos entstehen aus Angst: um dem Nachdenken zu entgehen, als eine Befreiung vom Grübeln um den Tod. Eine unbewusste Selbsttherapie vielleicht, als versuchten die Jugendlichen die Trauerphase zu überspringen.
Ein Junge hält ein Mädchen im Arm, er macht mit Zeige- und Ringfinger den Teufelsgruß. #wunderschön #Beerdigung #Großvater #Hipster #Foto des Tages #Gefällt mir #Folgt mir. Warum er das Bild gemacht hat? „100 % Spaß“, antwortet er auf Twitter. Willibald Ruch ist Humorforscher, er lehrt am Psychologischen Institut der Universität Zürich. „Humor kann durchaus negative Emotionen abfangen, das Unerträgliche erträglich machen.“
Dopethecomedian hat ein Foto von sich im beigen Sakko hochgeladen. Er schreibt: Auf dem Weg zu meinem #Opa #Beerdigung! Ihm zu #Ehren habe ich beschlossen #frisch zu sein. #Cool angezogen bis zum Ende, kein Wortspiel #Ruhe in Frieden.
Schwarzer Humor? „Es ist eine Unstimmigkeit in den Bildern, ein spielerischer Umgang mit dem Thema. Es werden Ideen zusammengeführt, die nicht zusammengehören“, findet Ruch. Einen Witz, eine Pointe sieht er trotzdem nicht. „Ich glaube, das hat nichts mit Humor zu tun. Ein Witz ist schärfer, klar erkennbar, intellektuell. Hier geht das nicht über einen Stilbruch hinaus.“ Eine Fratze, ein Peace-Zeichen, zusammen mit dem Schlagwort Beerdigung: Was zum Lachen reizen könnte, ist nur schwach ausgeprägt. Meist fehlen ein Augenzwinkern, ein selbstironisches Moment.
Ruch spricht deshalb lieber von therapeutischem Humor. „Sich über Beerdigungen lustig zu machen, das mag keiner. Die Frage ist doch: Sind positive Emotionen zugelassen?“ Statt depressiv zu sein, wird sich aufgemuntert, das Ganze erträglich gemacht. Wie auf einem Gruppenbild von vier jungen Mädchen, die in die Kamera grinsen. „Wir sind diese komischen Leute, die ein Foto machen, wie sie auf einer Beerdigung lachen“, steht darunter.
Die Jugendlichen versuchen etwas, womit sich Hinterbliebene schwer tun: das Leben weiterzuleben, weiter zu lachen, sich selbst vor der Verzweiflung ob des Verlusts zu schützen. Und das, so mag man argumentieren, kann kaum gegen den Wunsch der Verstorbenen sein. „Es gibt auch Kulturen, in denen viel gelacht wird, ohne dass es eine Geringschätzung der Toten wäre“, sagt Ruch. Im Gegenteil, sagt Humorforscher Ruch: „Es kann eine Würdigung sein.“ Das Foto als Geschenk für den Toten also, als eine letzte Ehre? Digitale Denkmäler für die Betrauerten. Das Internet vergisst nicht. Zumindest eines scheinen die Selfies sagen zu wollen: Die Toten hätten nicht gewollt, dass wir so traurig sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen