Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft

In einer Rede im deutschen Bundestag kritisiert Ukraines Präsident Wolodimir Selenski die Bundesregierung für ihre Beziehungen zu Russland. Im Anschluss findet keine Debatte statt

In seiner Rede vor dem deutschen Bundestag wirft Selenski der Bundesregierung vor, die Ukraine nicht genügend zu unterstützen Foto: Mic­ha­el Kappeler

Aus Berlin Gareth Joswig

Als der ukrainische Staatspräsident Wolodimir Selenski sich am Donnerstag in den Bundestag zuschaltet, sitzt er in olivfarbenem Militärhemd neben einer Ukraine-Flagge und sagt: „Ich spreche zu Ihnen nach drei Wochen des allumfänglichen Krieges, nach acht Jahren Krieg im Donbass. Ich spreche Sie an, während Russland uns bombardiert und alles zerstört, was wir in der Ukrai­ne aufgebaut haben.“ So begann seine eindrückliche und deutliche Rede vor dem Bundestag, in dem er die deutsche Regierung scharf kritisierte und mehr Hilfe für die Ukraine forderte. Zwar bedankte er sich für die bisherige Unterstützung und die verhängten Sanktionen, kritisierte aber auch die anhaltenden wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland.

Selenski sprach von einer mentalen Mauer, die durch Europa zwischen Komfortzone und Kriegsgebiet verlaufe: „Sie sind durch eine Art Mauer von uns getrennt, es ist keine Berliner Mauer, es ist eine Mauer zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird höher mit jeder Bombe, die auf die Ukraine fällt und mit jeder nicht getroffenen Entscheidung für den Frieden, die uns helfen könnte.“ Selenski schloss seine Rede in Anlehnung an den berühmten Ausspruch des US-Präsidenten Ronald Reagan („Mr. Gorbatchov, tear down this wall!“) von 1987 vor dem Brandenburger Tor: „Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer!“ Den Deutschen warf er zudem vor, nicht hinter diese Mauer zu schauen. So habe die Ukraine immer darauf hingewiesen, dass die Nord-Stream-Gaspipelines „eine Art Vorbereitung auf Krieg“ gewesen seien. Deutschlands Antwort sei stets gewesen: „Es ist rein wirtschaftlich: Es ist Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft. Es war aber der Mörtel für die neue Mauer“, so Selinski. Die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland finanzieren Putins grausamen Krieg, zerbomben Schulen, Krankenhäuser, Wohnquartiere und führen zu Tausenden Toten. Wie immer präsentierte sich Selenski rhetorisch stark: „Jedes Jahr wiederholen die Politiker ‚Nie wieder‘. Jetzt sehen wir, dass diese Worte einfach nichts wert sind.“ In Europa werde ein Volk vernichtet und demokratische Werte angegriffen – „wir versuchen es zu verteidigen, ohne Ihre tatkräftige Unterstützung“, sagte Selenski.

Und während er am Vortag vor dem US-Kongress dankbar erschien, blieb Selenski im Bundestag kühl und betonte Deutschlands historische Verantwortung: „Ich spreche Sie auch an im Namen der älteren Ukrai­ner, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, die Babyn Jar erlebt haben – vor 80 Jahren.“ Er verwies darauf, dass auch dieser Gedenkort des größten Massakers an Juden im Zweiten Weltkrieg von russischen Raketen getroffen wurde. Eine Familie, die dort der Opfer gedachte, sei getötet worden. Selenski ist selbst Jude, ein Teil seiner Familie wurde während der Schoah ermordet.

Mit Standing Ovations und langem Applaus haben die Abgeordneten und Gäste des prall gefüllten Bundestags Selenski verabschiedet, um kurz darauf ohne Unterbrechung zur Tagesordnung überzugehen. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne), welche die an Corona erkrankte Bärbel Bas (SPD) vertrat, übermittelte direkt nach der zwölfminütigen Rede Geburtstagsgrüße und teilte neue Ausschussmitglieder mit. Das sorgte nicht nur für Protest bei der Opposition, sondern auch für viel öffentliche Empörung.

Friedrich Merz (CDU) von der Unionsfraktion forderte mit einem Antrag zur Geschäftsordnung eine Antwort der Bundesregierung auf die Rede von Selenski. Die allerdings blieb aus, weil sie mit Mehrheit der Ampelkoalition mit Verweis auf die gemeinsam mit der Union beschlossene Tagesordnung abgelehnt wurde. Statt die historische Rede zu beantworten, stritten sich die Fraktionen, ob denn jetzt geantwortet werden sollte oder ob man nicht bei der gestrigen Debatte zum Ukrainekrieg schon genug gesagt hätte, ein eher unwürdiges Spektakel mit vielen Zwischenrufen. Auf den Punkt brachte es Jan Korte (Die Linke), der zur versammelten Koalition sagte: „Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht schon nach 100 Tagen so arrogant sind wie andere nach 16 Jahren nicht.“