Seenotrettung – Kladde von Anett Selle: Seenotrettung ohne Schiffe
Die Tür ist zu. „#Yachtfleet“ legt an. Wasser spritzt. Zehn Tage nach ihrem Aufbruch aus Licata endet die Demo für Seenotrettung.
Z wei Segelboote fahren in den Hafen ein, sie heißen „Sebastian K.“ und „Matteo S.“ Rundum zücken Menschen ihre Handys. Es ist kurz nach zehn Uhr morgens. Sizilianische Hitze: Viele fahren gerade zum Baden raus. Die beiden Boote kommen ihnen entgegen.
“EU, stop hiding behind Salvini“, steht auf einem Segel. “#Yachtfleet“-Fahnen wehen im Wind. “Mission Lifeline“-Banner hängen an den Relings. Um die Boote herum donnern zwei Rhibs – motorisierte Beiboote. Wasser spritzt. Zehn Tage nach ihrem Aufbruch aus Licata endet die Demo für Seenotrettung mit dieser Hafeneinfahrt.
“Es ist erbärmlich, dass wir gezwungen sind, mit so kleinen Yachten rauszufahren, um dafür zu demonstrieren, dass wir zivile Seenotrettung betreiben können“, sagt Richard Brenner, während er eins der Rhibs steuert. “Wir haben das große Schiff, die ‚Lifeline‘, das liegt seit über einem Jahr in Malta und ist beschlagnahmt, weil ein politischer Prozess läuft. Yachten lassen sich schlechter festsetzen und deswegen sind wir damit raus.“
Fast alle großen NGO-Schiffe sind festgesetzt. Die Vorwürfe, unter anderem: Beihilfe zur Schlepperei. Beihilfe zur illegalen Migration. Nicht ordnungsgemäße Schiffsregistrierung. Mehr Menschen an Bord genommen als erlaubt. Nicht ordnungsgemäße Mülltrennung.
Staatliche Seenotrettung läuft weiter – ohne Schiffe
“Wir wissen nicht wirklich, wie viele Menschen im Mittelmeer sterben – es gibt keine Zeugen mehr.“ Das sagte der Hohe Kommissar der UN für Geflüchtete, Filippo Grandi, im Dezember 2018, als der Bericht “Desperate Journeys“ (“Verzweifelte Reisen“) erschien.
Die “Sea-Watch 3“ fährt seit zwölf Tagen mit erst 53, dann 43, jetzt 42 geretteten Menschen vor Lampedusa hin und her und her und hin. Immer an der Grenze der italienischen Territorialgewässer. Nach und nach evakuiert die italienische Küstenwache Notfälle. Die „Sea-Watch 3“ darf nicht einfahren.
Diesen Samstag hat der Evangelische Kirchentag in einer Resolution die Evangelische Kirche dazu aufgefordert, ein eigenes Schiff für Seenotrettung ins Mittelmeer zu schicken. Die NGO-Aufklärer “Kolibri“ und “Moonbird“ fliegen fast täglich Einsätze, um Boote in Seenot zu finden. Ein Schiff von Mission Lifeline soll bald wieder in See stechen. Proactive Open Arms ist mit der „Josepha“ unterwegs.
Währenddessen sind staatliche Seenotrettungsprogramme wie “Mare Nostrum“ und “Operation Sophia“ beendet – beziehungsweise läuft Sophia weiter: ohne Schiffe. Und wenn Privatpersonen retten, müssen sie damit rechnen, keinen Hafen anlaufen zu dürfen.
„Wir rennen immer hinterher“
Das gilt selbst für wirtschaftliche Schwergewichte. Die dänische Maersk Line ist die größte Containerschiff-Reederei weltweit. Als eines ihrer Schiffe, die “Aleksander Maersk“, letzten Sommer 113 Gerettete an Bord hatte, musste sie tagelang auf See warten, bevor sie einen italienischen Hafen anlaufen durfte.
“Wir tun nichts Verbotenes, dann erlassen sie ein neues Gesetz. Wir stellen uns darauf ein, tun weiterhin nichts Verbotenes – und sie machen wieder ein neues Gesetz“, sagt Helmut Philipp, der bei der “#Yachtfleet“ als Rhibfahrer dabei ist. “Wir rennen immer hinterher.“
In einer Rede von 2015 bezeichnete Jean-Claude Juncker als Präsident des Europäischen Rates das Ende von Mare Nostrum als „schlimmen Fehler“. Zur Bekämpfung von Menschenschmuggel forderte er, was auch NGOs und die UN fordern: legale Migrations- und Fluchtwege zu schaffen.
“Wenn wir die Tür nicht öffnen, nicht mal ein bisschen, dann sollten wir nicht überrascht sein, dass weniger vom Glück begünstigte Menschen von überall auf diesem Planeten versuchen, durchs Fenster einzusteigen. Wir müssen die Tür öffnen, um Menschen davon abzuhalten, durch die Fenster zu kommen.“
Totengräber in Tunesien, Abschottung im Niger
Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht
Im Frühjahr 2019 hat sich das Sterben im Mittelmeer im Vergleich zum Frühjahr 2018 vervierfacht. Seit 2014 sind mindestens 18.000 Menschen im Mittelmeer gestorben. Wegen der Meeresströmungen landen viele Körper in und vor Tunesien. Dort ist der Fischer Chemseddine Marzoug Totengräber geworden. Er begräbt die Körper, die an der Küste vom Mittelmeer angespült werden.
Ein Skipper der “#Yachtfleet“, Thomas Nuding, hat ihn letztes Jahr besucht. „Er nennt sich James Dean. Hat hunderte Leichen begraben inzwischen. Männer, Frauen, Kinder. Die meisten ohne Kopf. Der fällt beim Verwesen im Wasser in der Regel zuerst ab. In der Gegend um den Friedhof liegt auch viel Müll rum. James Dean begräbt die Leichen mit Sand und wenn der Wind doll weht, werden die auch mal freigelegt und Müll landet drauf.“
Die EU ist weniger im Mittelmeer, mehr im Niger aktiv. Das Land gehört zu den ärmsten der Welt. Im Südosten sitzt die Terrorsekte Boko Haram, etwa 240.000 Menschen sind vor ihr geflohen. Zahlreich flüchten die Menschen in den Niger oder aus ihm heraus. Aus dem angrenzenden Mali sind über 40.000 Menschen vor Krieg in den Niger geflohen. Algerien schiebt geflohene Menschen massenhaft in den Niger ab. Auch aus libyschen Lagern werden Menschen von der UN in den Niger geschickt.
Gleichzeitig wird der Niger abgeriegelt, sodass man nur noch rein-, nicht mehr rauskommt. 2015 trat das Gesetz “Law 36“ in Kraft. Es verbietet allen Menschen, die nicht aus dem Niger kommen, das Land Richtung Norden zu verlassen – Richtung Libyen. Von der EU soll Niger von 2014 bis 2020 über 700 Millionen Euro erhalten.
2016 war Angela Merkel die erste deutsche Bundeskanzlerin, die das Land besuchte. Niger entwickelt sich zur südlichsten Grenze Europas. Die Tür ist zu. Und die Fluchtbewegungen des Klimakrise-Jahrtausends haben gerade erst begonnen: Der Weltklimarat rechnet mit Hunderten Millionen auf der Flucht bis 2100.
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