Seenotrettung – Kladde von Anett Selle: Drei Boote aus Libyen

Fischer funken. Die „Yachtfleet“ sucht nach einem Boot mit 80 Menschen. Lampedusa antwortet erst nicht und verweist dann auf Malta. Malta ist viel weiter weg.

Rettungswesten hängen an einer Reling

Rettungswesten an Bord eines Rettungsschiffs von Mission Lifeline (Archivbild 2018) Foto: dpa

MALTESISCHE SAR-ZONE taz | „Hafen Lampedusa, schnell, Hafen Lampedusa! Da ist ein Boot aus Libyen. Da sind Frauen, da sind Kinder!“, ruft ein italienischer Fischer über Funk. Der Hafen antwortet nicht. „Etwa 80 Menschen! 50 Meilen vom Hafen Lampedusa! Der Motor funktioniert nicht! Schnell, schnell! Hafen Lampedusa!“ Fünf Minuten und zahlreiche Funkrufe der Fischer später. Der Hafen Lampedusa meldet sich. „Si. Warten Sie.“

In der Ecke der Wohnküche, die auf der Matteo S. als Brücke dient, steht Michele Angioni, der Koordinator der „#Yachtfleet“-Demo für Seenotrettung von Mission Lifeline, mit Teilen der Crew zusammen. Alle hören den Funk. Viele zeichnen ihn auf. „Hafen Lampedusa, Hafen Lampedusa!“ Die Fischer funken weiter. Der Hafen schweigt.

Knapp 20 Minuten später. Immer noch funken die Fischer. „Schnell, schnell! Hafen Lampedusa!“ Nächste Rückmeldung des Hafens: „Ihre Position fällt in die Zuständigkeit der Autoritäten von Malta.“ Wo die Fischer gerade sind, weiß man im Hafen über das Ortungssystem. „Wenden Sie sich an Malta.“

Angioni rubbelt seine Haare. „Haben wir das aufgenommen?“ Allgemeines Nicken. „Das leiten wir sofort weiter. Das darf der Hafen nicht. Die müssen das selbst melden an Malta. Das ist, als würde ich einen Krankenwagen rufen und der sagt: Sorry, wir sind nicht zuständig, versuch's woanders.“

Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht

Die Fischer funken nochmal, sicherheitshalber: „Die Position ist –“ Angioni schnappt sich Kugelschreiber und das nächstgelegene Papier. Er schreibt, als wolle er gleichzeitig die Tischplatte gravieren. „– 34 Grad, 35 Minuten und 12 Grad, 15 Minuten!“ Angioni ruft nach oben zum Skipper: „Thomas, Kurs nach Norden!“

Auf die Positionsangabe des Fischers antwortet der Hafen nochmal: Man sei nicht zuständig. „Da sind Frauen! Da sind Kinder!“, ruft der Fischer. Letzte Rückmeldung des Hafens: „Ja, wurde verstanden.“ Die Fischer funken. Der Hafen schweigt. Angioni schnappt sich das Funkgerät. „Amigo! Bleib auf diesem Kanal! Wir kontaktieren jetzt Malta!“

Sich überlappende Zuständigkeiten

Die Position der Fischer liegt in einem Bereich, in dem sich italienische und maltesische Such- und Rettungszone (SAR) überlappen. Theoretisch sind beide zuständig. „Von Lampedusa aus könnte Hilfe in einer Stunde da sein. Aber Italien will nicht“, sagt Angioni. „Malta braucht vier Stunden, mindestens.“ Er dreht sich zur Crew. „Wir können in anderthalb da sein. Mit Segel und Motor. Vollgas.“ Die Crew zerstreut sich. Alle auf Position.

Menschen in einem Boot auf Wasser

#Yachtfleet ist ein Protest von Mission Lifeline auf dem Mittelmeer. Vom 6. bis etwa 23. Juni kommen zivile Seenotretter*innen auf privaten Yachten zusammen, trainieren und retten Menschen in Seenot. Auch an Bord ist taz-Reporterin Anett Selle und streamt live auf Periscope. Hier notiert sie dreimal pro Woche, was um sie herum passiert. Bisher erschienen diese Teile:

Bratwürste und Einsatzübung

Auf dem Meer gibt es keine Pause

„Du siehst sie untergehen“

Nachtschicht auf dem Meer

Kriegsschiffe am Horizont

Es ist Donnerstagnachmittag. Seit fast 24 Stunden suchen die beiden Segelboote der „#Yachtfleet“ von Mission Lifeline nach einem Boot mit etwa 80 Menschen. Am Mittwochabend hatte sie der NGO-Aufklärungsflieger Kolibri alarmiert: Ein Boot sei in der libyschen SAR-Zone in Seenot. Die Sebastian K. und Matteo S. waren die einzigen Seenotretter in der Nähe. Sie fuhren los.

Die ganze Nacht auf Donnerstag haben die Crews in der libyschen SAR-Zone gesucht. Nichts gefunden, außer libyschen Ölbohrinseln, deren Lichter weithin sichtbar brennen. „Hier findet man öfter Boote“, sagte Nuding. „Die Menschen sehen die Lichter und denken, das sei Italien. Weil die Schleuser ihnen sagen, es sei nur wenige Stunden entfernt.“

Als die Funksprüche der Fischer am Donnerstagnachmittag eingehen, ist bereits klar, dass mehrere Boote gleichzeitig aus Libyen losgefahren sind. Drei sind bestätigt. Eins soll die sogenannte libysche „Küstenwache“ abgefangen und die Menschen zurück in die Lager gebracht haben. Eins melden die Fischer vor Lampedusa. Und das dritte?

Für die Crews der „#Yachtfleet“ wird Donnerstag der geschäftigste Tag der gesamten Aktion. Am Ende werden die beiden Segelboote mehr als 120 Seemeilen zurückgelegt haben. Raus aus der libyschen SAR-Zone, rein in die maltesische, in Richtung Lampedusa. Die Besatzungen der beiden Rhibs – der Beiboote – werden Stunden am Stück auf dem Meer verbracht haben, außer Sichtweite der Segelboote, als Kundschafter. Vollbeladen mit Rettungswesten.

Malta prüft

„Malta sagt, sie klassifizieren das Boot nicht als in Seenot, weil der Motor wieder läuft“, sagt Angioni. „Das war so klar.“ Ein Seenotfall liegt vor, sobald Menschen auf einem Boot sich als in Seenot befindlich melden – oder wenn Dritte ein Boot melden. Liegt eine Meldung von Seenot vor, ist die zuständige offizielle Stelle verpflichtet, zu reagieren. „Seenot ist so subjektiv, wie wann jemand den Krankenwagen ruft“, sagt Angioni. „Die müssen immer kommen. Aber in der Realität… Leute aus einer meiner Crews standen mal bis zu den Knien im Wasser. Sie waren auf einem Boot voller Menschen im Einsatz, das unterging. Und Frontex meinte am Telefon, das sei keine Seenot.“ Als Faustregel gelte, dass zu wenig Treibstoff, zu wenig Trinkwasser und Nahrung oder medizinische Notfälle an Bord generell Seenot bedeuten. „Dass ein Boot untergeht, ist auch ein ziemlich sicheres Zeichen. Sollte man meinen.“

Am Telefon sagt das RCC Malta: Über Treibstoff, Trinkwasser, Rettungswesten oder Gesundheitszustand habe man bislang gar keine Informationen vorliegen. „Wir werden das untersuchen.“ Als das Gespräch beendet ist, sagt Angioni: „Immerhin.“

Während der Fahrt bereiten sich die Crews auf den Segelbooten auf den Ernstfall vor. „Bis Kolibri das nächste Mal fliegt, haben wir kaum eine Chance, die Menschen zu finden“, sagt Skipper Thomas Nuding. „Aber wir suchen.“

Satellitentelefon und Mailprogramm sind in Dauernutzung. „Das ist das Ziel von Yachtfleet“, sagt Nuding: „Da sein und im Zweifelsfall helfen können. Aber vor allem: Hinsehen. Druck machen. Dokumentieren.“

Lampedusa, Malta, Rom: Während die einen nach dem Boot suchen oder medizinische Utensilien sortieren, kontaktieren die anderen die offiziellen Stellen. Versuchen, den Überblick zu behalten. Etwa zwei Stunden nach den Funksprüchen der Fischer ruft Angioni: „Italien hat einen Helikopter losgeschickt!“ Eine weitere Stunde später: „Ein Frontex-Flugzeug ist gestartet!“

Bei Dunkelheit kehren die Rhibs zurück. Sie haben nichts gefunden. Die zweite Nacht in Folge verbringen die Crews mit Wache und Ausschau. Statt im Schein libyscher Ölplattformen nun im Licht italienischer Fischerboote. Mit Funkkontakt. Und Delfinen. Satellitentelefon und Mailprogramm laufen bis zum Morgengrauen. „Die italienische Küstenwache ist ausgerückt.“ Angioni gähnt.

Am nächsten Morgen sind beide Boote gefunden, die Menschen in Lampedusa gelandet. Einige Meilen entfernt wartet derweil noch die Sea Watch 3. Mit immer noch 43 geretteten Menschen. Seit neun Tagen.

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