Seelsorge im neuen Jahr: Moral Olympics sind out
Emotionale Selbstausbeutung, Shaming, Understatement. Angewohnheiten, die spätestens 2023 nicht mehr cute sind. Und was stattdessen im Kommen ist.
S o vieles von dem, womit wir kokettieren, ist emotionale Selbstausbeutung und kann weg. „Not cute“, das heißt: „Nee, diese Angewohnheit, von der du glaubst, dass sie dich charmant macht, sie tut genau das Gegenteil.“ Hier kommen die neuen Ins und Outs der Selbstsorge und des Miteinanders für 2023.
1. Nicht mehr cute: Shaming
Shaming heißt: Man versucht, die Welt zu verbessern, indem man Schuldgefühle in Einzelnen weckt. Shaming ist kein Produkt von Social Media, wie manche gern behaupten, aber es grassiert dort. Dieses Jahr hatte Shaming seinen historischen Tiefpunkt. Irgendwo zwischen wohlfeilen Kommentaren, dass russische und ukrainische Männer nicht vor dem Krieg flüchten sollten, und dem geshameten Comingout des Schauspielers Kit Connor war er erreicht.
Shaming funktioniert nicht. Die beschämte Person verhält sich vielleicht kurzfristig wie gewünscht, langfristig führt Scham aber entweder zu Blockaden oder Trotz. Die shamende Person indes wird von ihren eigenen hohen Ansprüchen gefangen genommen. Moral Olympics sind die Folge. Hören wir auf, Fehltritte aufzuzeigen, wo immer wir sie sehen.
Stattdessen cute: Sich engagieren
Überlegen wir uns, wie wir die Welt gerne hätten, und wie man eine solche Welt attraktiv machen kann. Das bedeutet: politische Bedingungen verändern, inklusive Ge- und Verbote. Das geht besser kollektiv.
2. Absolut nicht cute: Die „professionelle“ Performance
Seien wir ehrlich, inzwischen haben wir fast alle schon Meetings mit Handtuch-Turban auf dem Kopf besucht, haben uns alle mal von unten in die Nasenlöcher geguckt, haben bei der Präsi Babykotze auf der Schulter gehabt. Vor der Pandemie bedeutete „professionell sein“, dass man gestriegelt war, gepudert, kostümiert, frei von körpereigenen Gerüchen und natürlich: von Emotionen.
Damals war man 9 to 5 gar kein Körper, man hatte auch kein Nervensystem, keine Seele, keine Drüsen. Diese Performance ist eine androzentrische, im klassisch binären Geschlechtersystem. Sie ist außerdem ableistisch, weil viele Menschen mit Behinderung viel länger brauchen, um „sauber und gut gekleidet“ zu sein als able-bodied Leute. Und sie ist bürgerlich, weil Kinder aus gutem Hause groß werden mit dem Wissen über Codes – wie dass man braun nicht mit schwarz kombiniert. Die professionelle Performance aufrechtzuerhalten, fällt einigen also leichter als anderen. Und sie wird für alle immer komplizierter.
Denn wer aufs Fahrrad umsteigt, was wir nach Möglichkeit sollten, wird nicht duftend und knitterfrei auf der Arbeit auftauchen. Wer Burnouts vermeiden will, braucht Kinderkrankentage, Pausen zum Heulen, Ungekemmt-Zuspätkomm-Momente. Arbeitgeber*innen müssen entweder die Ressourcen zur Verfügung stellen, die es braucht, um im Büro übernatürlich crisp auszusehen (Umkleiden, Duschen, Waschmaschine, bezahlte Frischmach-Zeit) – oder müssen auf diesen Anspruch verzichten.
Stattdessen cute: Business casual
Wie man sich für die Lieblingstante zurechtmacht, so reicht es auch auf Arbeit.
3. Extremst anticute: Understatement
„Ach, das ist gar nicht so krass“ sagen, über die eigenen erworbenen Abschlüsse, Fähigkeiten, Expertisen? War sehr lange sehr cute. Man gab sich unterwürfig und dankbar, wenn sich nach Jahren Ausbildung oder Studium jemand erbarmte, einem Gehalt zu zahlen. Hatte Verständnis, wenn man ohne „drei Jahre einschlägige Erfahrung“ behandelt wurde wie ein Vorschulkind. „Danke für die Chance“, sagten wir für eine befristete Stelle und für Bezahlung, die grade so reicht, um in der Nähe des Arbeitsplatzes zu wohnen.
Menschen zwischen 25 und 55, selbst hoch Qualifizierte, sind geprägt von einem Diskurs über die angebliche Härte des Arbeitsmarkts. Bekamen eingetrichtert, sich zu benehmen wie Kirchenbankrutscher*innen für die Aussicht auf ein Leben in Kettenbefristungen in muffigen Büros, mit „Dringend“-Emails vom Chef um 21 Uhr. Viele von uns machten das mit. Weil wir zwar mehr Ansprüche hatten als die Boomer, aber noch nicht das Selbstbewusstsein der GenZ. Weil wir in der Ausbildung einmal zu oft gehört hatten: „Und was macht man dann damit? Außer Taxifahren?“
Stattdessen cute: Selbstbewusstsein
Wir schlittern auf die Vollbeschäftigung zu. Fachkräftemangel. Arbeitskraft wird ein Sellers Market. Die Personalstellen fangen schon an, unruhig zu werden. Gut so, sie haben Menschen zu lange als verschiebbare Ressource behandelt. Das heißt nicht, dass unverschämt und egoistisch das neue Cute ist. Das gesunde Gegenteil von Unterstatement ist nicht Überstatement. Sondern Selbstbewusstsein. Gesundes 2023!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Liberale in der „D-Day“-Krise
Marco Buschmann folgt Djir-Sarai als FDP-Generalsekretär
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?