Seehofer will Verfassungsschutz aufrüsten: „Mit der SPD ist das nicht zu machen“
Ein Gesetzentwurf sieht vor, dass der Verfassungsschutz bei Messengerdiensten mitlesen und Kinder überwachen kann. Die SPD geht auf die Barrikaden.
Seehofer will dem Verfassungsschutz künftig das Mitlesen von Messengerdiensten wie WhatsApp erlauben. Dafür dürfte der Geheimdienst „Staatstrojaner“ einsetzen, mit denen Nachrichten noch vor einer Verschlüsselung abgefangen werden könnten – eine sogenannte Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Auch Online-Durchsuchungen sollen genehmigt werden, mit denen das Amt heimlich Computerfestplatten durchforsten könnte. Beides ist bisher nur dem Bundeskriminalamt erlaubt.
Seehofers Gesetzentwurf befindet sich gerade in der Ressortabstimmung und liegt der taz vor. Verfassungsschützer fordern die Online-Überwachung schon lange: Um Anschläge zu verhindern, müsse man auch Messengerdienste mitlesen dürfen, auf denen sich Extremisten austauschen. Auch im Koalitionsvertrag hatten sich Union und SPD auf das Vorhaben geeinigt.
Seehofers Entwurf geht deutlich darüber hinaus. Denn das Innenministerium will auch diverse Unternehmen zu umfassenderen „Mitwirkungspflichten“ verdonnern. Genannt werden neben Telekommunikationsdiensten auch die Branchen Finanzwesen und Personenverkehr. Mussten diese gesetzlich bisher nur „im Einzelfall“ Daten über Nutzer herausrücken, soll dies nunmehr schlicht „auf Verlangen“ erfolgen – offenbar also zum Standard werden. Auch Betreiber von Videoüberwachung sollen bei „erheblichen“ Bedrohungen verpflichtet werden, ihre Aufzeichnungen dem Amt zu übermitteln.
Im Ausnahmefall auch Zugang zu Räumlichkeiten
Nicht nur das Bundesamt, auch die Landesämter für Verfassungsschutz sollen solches Material und solche Auskünfte nun erhalten. Im Ausnahmefall sollen Unternehmen für Überwachungsmaßnahmen auch Zugang zu ihren Räumlichkeiten und zum „Einbringen von technischen Mitteln“ gewähren.
Und en passant will Seehofer auch die Altersgrenze komplett abschaffen, ab welcher der Verfassungsschutz Kinder oder Jugendliche überwachen darf. Zuletzt wurde diese Altersgrenze bereits von 16 auf 14 Jahre abgesenkt. Eine weitere Herabsetzung lehnte die SPD ab: Extremistisch indoktrinierte Kinder seien ein Fall für die Jugendämter und nicht für den Geheimdienst. Das Innenministerium führt nun dagegen wieder den Fall eines 12-Jährigen an, der 2016 in Ludwigshafen versuchte, einen Sprengstoffanschlag auf einen Weihnachtsmarkt zu begehen. Verwiesen wird auch auf Kinder von zurückkehrenden IS-Anhängern. Zudem gebe es ja für die Polizei auch keine Altersgrenze bei Ermittlungen, heißt es im Gesetzentwurf.
Genau hier haken Kritiker ein: So gehe es beim Verfassungsschutz ja auch nicht um die Verfolgung konkreter Straftaten, sondern um die Abwehr möglicher Gefahren. Die Verdachtslage ist hier viel schwammiger, die Kontrolle ebenso. Und auch rechtlich ist das Vorhaben heikel. Das Bundesverfassungsgericht urteilte bereits 2008, dass Online-Durchsuchungen nur zulässig seien, wenn es „tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut“ gebe. Computer seien heute ein „elementarer Lebensraum“ für die persönliche Entfaltung, in den der Staat nicht einfach so eindringen dürfe.
Nur bei „besonders schweren Bedrohungen“
Das Innenministerium erklärt im neuen Gesetzentwurf die Online-Durchsuchung denn auch nur bei „besonders schweren Bedrohungen“ für zulässig. Bei den Betroffenen sollen Daten, die „den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen“, nicht erhoben werden – „soweit möglich“. Ein Sprecher spricht von „maßvollen und sachgerechten Kompetenzerweiterungen“ des Verfassungsschutzes. Dieser müsse „auch in einer digitalisierten Welt seinen Schutzaufgaben gerecht werden können“.
Laut Entwurf sollen auch für den Bundesnachrichtendienst neue Maßnahmen genehmigt werden. Zudem soll es dem Bundesnachrichtendienst, dem Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst nicht mehr nur „projektbezogen“, sondern auch dauerhaft möglich sein, einen gemeinsamen Datenpool zu führen.
Die SPD geht gegen die Vorschläge auf die Barrikaden. Mit dem Koalitionsvertrag habe der Gesetzentwurf kaum noch etwas zu tun, kritisiert Innenexperte Lischka scharf. „Von der dort vereinbarten Stärkung der parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes ganz zu schweigen.“ Die SPD, so Lischka, werde dem Entwurf in dieser Form keinesfalls zustimmen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alles zur Bundestagswahl
Lindner und die FDP verabschieden sich aus der Politik
Wahlsieg der Union
Kann Merz auch Antifa?
Der Jahrestag der Ukraine-Invasion
Warum Russland verlieren wird
FDP bei der Bundestagswahl
Lindner kündigt Rückzug an
Wahlergebnis der AfD
Höchstes Ergebnis für extrem Rechte seit 1945
Wahlniederlage von Olaf Scholz
Kein sozialdemokratisches Wunder