Security-Gewalt in Ankerzentrum: Mitnichten ein Einzelfall
Ein Geflüchteter wird von Wachleuten in einem Ankerzentrum misshandelt. Eine Anzeige bleibt erfolglos, das Verfahren wird eingestellt.
Sidi F. möchte nicht, dass sein echter Name veröffentlicht wird. Der senegalesische Flüchtling befindet sich derzeit in Italien und war für ein Gespräch nicht zu erreichen. Die taz hat aber mit seinem Anwalt Benjamin Derin gesprochen. Dieser sieht den Anspruch seines Mandanten auf effektive Strafverfolgung verletzt, der auf dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit beruht.
Der Vorfall, um den es geht, gehört in eine Reihe von Berichten über Securitygewalt in der Anker-Einrichtung Oberfranken (AEO). Zu einer Verurteilung von Sicherheitspersonal kam es bislang nie. Auch im Fall von Sidi F. und seinem Freund hat die Polizei zunächst nur gegen die beiden beteiligten Geflüchteten wegen Körperverletzung ermittelt, die beiden als Beschuldigte vernommen. Am 20. Oktober, also gut drei Wochen nach dem Vorfall, erstatteten zwei Whistleblower aus den Reihen der Sicherheitskräfte Anzeige und sagten gegen ihre Kollegen aus. Erst danach änderte sich die Ermittlungsrichtung.
Durch diese Whistleblower drang an die Öffentlichkeit, dass Fälle massiver Gewaltauseinandersetzungen in der AEO im Sommer 2017 keine Seltenheit waren. Und dass die Ausbrüche mit der Praxis eines sogenannten Sonderteams in Zusammenhang standen, einer speziellen Einsatzgruppe, geschult in Nahkampftechniken, die Konfliktsituationen offenbar bewusst eskalieren ließ.
Drastisches Bild
In Gesprächsprotokollen, die im Herbst 2017 entstanden sind, zeichnen die Whistleblower ein drastisches Bild von der Auseinandersetzung am 27. September. Sidi F.s Freund, ebenfalls ein Senegalese, sei von Mitgliedern des Sonderteams mit Pfefferspray attackiert worden. Auf dem Boden liegend habe er nach Wasser gerufen. Als F. ihm habe Wasser bringen wollen, sei er ebenfalls zu Boden gebracht und gefesselt worden. Beide Männer seien mit Fäusten, Knien und Füßen geschlagen und getreten worden, auch gegen den Kopf. Ein Wachmann habe sich mit beiden Füßen und vollem Gewicht auf den Kopf des liegenden Sidi F. gestellt. Am selben Tag tragen zwei weitere Senegalesen Verletzungen von einer Auseinandersetzung am Nachmittag davon. Einer von ihnen verliert mehrere Zähne, Sicherheitsleute sagen aus, er habe sich die Verletzungen selbst zugefügt.
Teile der Security, die an den Zusammenstößen beteiligt waren, tauschten sich zu der Zeit in der Chatgruppe „Sons of Odin“ aus. Die Inhalte, die der BR in Teilen im Mai 2019 veröffentlichte, belegen rechtsradikales Gedankengut. Unmittelbar nach dem Zusammenstoß am 27. September 2017 schrieb demnach einer der beschuldigten Sicherheitsleute dort, er habe heute einen Senegalesen „gelegt“. Und: „War heftig, wie der bekommen hat.“ Die Firma Fair Guards, zuständig für die Sicherheit im Ankerzentrum, suspendierte die Mitglieder der Chatgruppe und löste das Sonderteam auf.
Sidi F. lebt heute in Italien, abgeschoben nach Dublin-Verordnung. Die Ermittlungen gegen zehn Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes wegen gefährlicher Körperverletzung waren von der Bamberger Staatsanwaltschaft im Sommer 2018 eingestellt worden, das Oberlandesgericht lehnte einen Antrag auf Klageerzwingung ab. Es sei keine „hinreichende Verurteilungswahrscheinlichkeit gegeben“. Heißt: Die Staatsanwaltschaft hält die Beweislage für nicht ausreichend, um Anklage zu erheben, das OLG schließt sich dem an. Der Berliner Rechtsanwalt Benjamin Derin, spezialisiert auf Verfassungsrecht, hat in F.s Namen die Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Tatverdacht hinreichend
Derin kann die Entscheidung des Gerichts nicht nachvollziehen. „In jedem anderen Fall“, sagt er, „würden vier so übereinstimmende Aussagen ausreichen, um zumindest ein Gerichtsverfahren zu eröffnen.“ Die Zeugenaussagen begründen aus seiner Sicht einen hinreichenden Tatverdacht. In diesem Fall aber würden diese aber als nicht glaubhaft beiseite gewischt. „Diese Beurteilung müsste man einem Tatgericht überlassen. Man verbiegt sich hier, um um eine Aufarbeitung herumzukommen.“
Rechtsanwältin Christine Lüth, die zuvor die Beschwerde gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft verfasst und Klageerzwingung beim OLG beantragt hatte, pflichtet ihm bei: „Wenn ich das mit anderen Verfahren vergleiche, muss ich sagen: Wären die Mandanten EU-Bürger gewesen, wäre es nie zu einer Einstellung gekommen. Da bin ich ganz sicher.“
Das Bamberger Oberlandesgericht weist diese Darstellung zurück: „Die Entscheidung, ob Anklage erhoben oder das Strafverfahren eingestellt wird, richtet sich schon aus rechtsstaatlichen Gründen nicht nach irgendeiner Anzahl von Zeugen oder ‚Gegenzeugen‘, sondern hängt von der Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls ab“, teilt Bernd Weigel mit, Richter und Leiter der Gerichtspressestelle.
Vernehmungen ohne Dolmetscher
In seinem Beschluss argumentiert das OLG Anfang Januar 2020: Die dokumentierten Verletzungen des Sidi F. seien nicht mit den Schilderungen der Prügel in Einklang zu bringen. „Diese Argumentation ist schlicht eine Frechheit“, sagt Aino Korvensyrjä, die das das Verfahren beobachtet. Die Aktivistin bei Justizwatch promoviert an der Uni Helsinki über die Auswirkungen rechtlicher Gewalt auf abgelehnte Asylsuchende in Deutschland. Sie hat mit den Whistleblowern und mit Sidi F. gesprochen und sagt: „Die Polizei hat die Verletzungen von Sidi F. gar nicht dokumentiert. Außerdem stützt sich das OLG auf Vernehmungen, die ohne Dolmetscher geführt wurden.“
Der Vermerk eines Polizeibeamten in der Ermittlungsakte, es seien keine Verletzungen zu erkennen, stamme von den Vernehmungen, die erst nach den Aussagen der Whistleblower geführt worden seien, also gut einen Monat nach den Schlägen. „Der Beamte hat nicht angegeben, ob und wie er Sidi F. untersucht hat und ob er ausreichend medizinische Fachkunde besitzt, um eine solche Aussage zu treffen“, sagt Korvensyrjä.
Dem OLG liegt außerdem ein rechtsmedizinisches Gutachten vor, das am 26. Oktober angefertigt wurde, ziemlich genau einen Monat nach dem Vorfall. Der beauftragte Arzt diagnostizierte Narben, Schwellungen und Hautdefekte älteren Ursprungs, die aus dem Zeitraum des Vorfalls stammen könnten, aber nicht müssen.
Opfer müsste anders aussehen?!
Während also ein Arzt Verletzungen findet, die von den Securities stammen könnten, beschließen Oberlandesgericht und Staatsanwaltschaft, dass ein Opfer nach geschilderter Gewalteinwirkung anders aussehen müsste. „Sieht ein Laie denn diese Verletzungen von außen?“, fragt Benjamin Derin. „Hat das Gericht die medizinische Fachkenntnis, um das zu beurteilen? Ich glaube nicht.“ Hinzu komme, dass auch die Beschuldigten beispielsweise den Einsatz von Pfefferspray gar nicht bestreiten. Die Erfolgsaussichten seiner Beschwerde mag Derin nicht beziffern, das Verfassungsgericht habe in diesem Jahr aber schon einigen Klageerzwingungsverfahren stattgegeben.
Dass die Justiz das Verfahren eingestellt hat, habe sie nicht überrascht, sagt Aino Korvensyrjä. Sie hat über 20 ähnliche Prozesse begleitet und außerdem mit Opfern gesprochen, die aus Angst oder wegen fehlender Aussicht auf Erfolg gar nicht erst Anzeige erstatten wollten. Die von Securitygewalt am schlimmsten betroffene Zielgruppe seien ihrer Erfahrung nach Geflüchtete aus afrikanischen Ländern. „Asylsuchenden und Schwarzen Menschen wird vor Gericht in Deutschland nur selten Glauben geschenkt“, sagt Korvensyrjä. „Das ist die Hauptausdrucksform von institutionellem Rassismus bei der bayerischen und deutschen Polizei und Strafjustiz.“ Die Hoffnung im Fall von Sidi F. liege in den wertvollen Aussagen der Whistleblower begründet.
Während Sidi F.s Beschwerde auf den Schreibtischen des Verfassungsgerichtshof in München landet, muss sich die Bamberger Staatsanwaltschaft mit dem nächsten Fall aus dem Ankerzentrum auseinandersetzen. Der Bayerische Flüchtlingsrat veröffentlichte am 23. Juni ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein auf dem Boden festgehaltener Bewohner des Ankerzentrums von einem Wachmann mit dem Knie gestoßen wird. Die Staatsanwaltschaft Bamberg ermittelt in diesem Zusammenhang nun gegen den Bereichsleiter, unter dessen Verantwortung bereits das Sonderteam aufgebaut worden war.
Joachim Herrmann bemüht
Der Vorfall ereignete sich am 26. Februar 2019, zu einem Zeitpunkt also, als die Reihen der Sicherheitsleute vorgeblich bereits von Gewalttätern befreit waren. Der Bayerische Flüchtlingsrat warnt immer wieder, viele Fälle systematischer Gewalt drängen gar nicht nach außen, weil die Asylsuchenden im Lager zu oft die Erfahrung gemacht hätten, ihnen werde nicht geholfen. Im Gegenteil: Sie würden Opfer von Gewalt und anschließend als Beschuldigte vernommen.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann ist bemüht, die Einrichtung Ankerzentrum an sich zu verteidigen. In einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk im August 2019 sagte er: „Es hat einzelne Fälle gegeben, wo in der Tat von solchen Mitarbeitern indiskutables Verhalten da war. Solche Leute sind dann entlassen worden oder auch der Vertrag mit der entsprechenden Firma ist gekündigt worden.“
Tatsächlich hat die Regierung von Oberfranken die Bewachungsdienstleistung neu ausgeschrieben, und zwar schon zum 1. September 2019. Das Verfahren ist allerdings ins Stocken geraten. „Bis zum Abschluss des Vergabeverfahrens – voraussichtlich im 3. Quartal 2020 – ist der bisherige Sicherheitsdienst noch interimsweise weiter in der AEO tätig“, teilt ein Regierungssprecher mit. Noch immer ist also Fair Guards dort im Einsatz.
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