Sechseinhalb Jahre nach dem G20-Protest: Versammlungsrecht unter Druck

Nächste Woche stehen in Hamburg G20-Gegner vor Gericht, die 2017 festgenommen wurden. Die Staatsanwaltschaft will das Demonstrationsrecht beschneiden.

Demonstrierende mit Flaggen hinter einem roten Transparent, im Hintergrund Rauch

Soli-Demo anlässlich des letzten Rondenbarg-Prozesses Foto: Markus Scholz/dpa

HAMBURG taz | Aller guten Dinge sind drei – und aller schlechten anscheinend auch. In Hamburg beginnt am 18. Januar zum dritten Mal ein Prozess gegen G20-Demonstrant*innen, die im Juli 2017 am Rondenbarg festgenommen wurden. Zwei Mal schon war ein Prozess gegen andere De­mons­tran­t*in­nen vom Rondenbarg gescheitert – einmal, weil die Richterin in Mutterschutz ging, das andere Mal, weil das Gericht es mit steigenden Infektionszahlen der Corona-Pandemie nicht mehr für vertretbar hielt, die Angeklagten aus ganz Deutschland anreisen zu lassen.

Das müssen die sechs neuen Angeklagten jetzt allerdings auch. Eine der angeklagten Personen lebt im Schwarzwald, eine in Stuttgart, die anderen in Berlin, Bielefeld, Bad Honnef und Bonn. Die Vorwürfe gegen sie sind heftig: Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen besonders schweren Landfriedensbruch, tätlichen Angriff, versuchte gefährliche Körperverletzung, Bildung einer bewaffneten Gruppe und Sachbeschädigung vor. Erhoben hat die Staatsanwaltschaft die Anklage bereits am 26. September 2019. Das Gericht hat 25 Hauptverhandlungstage angesetzt und hofft, im August ein Urteil sprechen zu können.

Was war nochmal am Rondenbarg passiert? Eine Gruppe von rund 200 De­mons­tran­t*in­nen wurde 2017 am frühen Morgen in einem Industriegebiet aus dem Nichts heraus von vorne und hinten durch Polizeieinheiten angegriffen. Eine davon war die als besonders brutal berüchtigte Blumberger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit der Bundespolizei.

Seitens der De­mons­tran­t*in­nen flogen Steine und Böller in Richtung der Wasserwerfer, verletzten aber niemanden. Die Po­li­zis­t*in­nen prügelten mit Knüppeln und Fäusten auf die De­mons­tran­t*in­nen ein und drängten sie zusammen. In ihrer Panik wollten einige De­mons­tran­t*in­nen über ein Geländer zwei Meter in die Tiefe auf einen Parkplatz springen. Das Geländer brach ab, die De­mons­tran­t*in­nen fielen auf eine Leitplanke. Einige blieben schwerverletzt liegen, teils mit offenen Brüchen. 14 Personen kamen ins Krankenhaus. Die Polizei nahm alle fest, die nicht weglaufen konnten oder wollten, insgesamt 80 Personen.

Am 24. Mai 2017 sprach der Bundesgerichtshof (BGH) eine Gruppe Fußball-Hooligans des Landfriedensbruchs schuldig, ohne ihnen individuelle Gewalthandlungen zuzuordnen.

Durch das Mitmarschieren in geschlossener Formation zum verabredeten Ort der Prügelei, hätten sie psychische Beihilfe zu den Taten geleistet, so das Gericht. 60 bis 100 Personen waren damals in Dreierreihen marschiert.

Der BGH erklärte auch, dass sich solche Hooligan-Schlachten von Fällen des Demonstrationsrechts unterscheiden, bei denen aus einer Versammlung heraus Gewalttaten begangen werden, die nicht von allen Demoteilnehmer*innen unterstützt werden oder intendiert sind.

Aus Sicht der am Verfahren beteiligten An­wäl­t*in­nen ist die bevorstehende Prozesseröffnung in vielerlei Hinsicht eine Zumutung. Die Vorwürfe hätten sechseinhalb Jahre lang wie ein Damoklesschwert über den damals Festgenommenen geschwebt. „Für die Betroffenen ist das der absolute Wahnsinn“, sagt die Berliner Strafverteidigerin Franziska Nedelmann.

Ein ausstehendes Verfahren wirkt sich außerdem negativ auf Job- und Zukunftsperspektiven oder Aufenthaltsrechtsbestimmungen aus. „Nach so einer langen Zeit aus der Lebenssituation herausgerissen zu werden, die heute ein ganz andere ist als damals, ist ein riesiger Einschnitt“, sagt die Anwältin. Und das alles, obwohl man nichts getan habe.

Das sieht die Staatsanwaltschaft zwar etwas anders, aber auch nicht komplett anders. Sie wirft den Angeklagten keine individuellen Straftaten vor, was nach deutschem Strafrecht eigentlich Voraussetzung für einen Schuldspruch wäre. Wie schon in den beiden geplatzten Rondenbarg-Verfahren und auch im Elbchaussee-Prozess im Jahr 2020 versucht die Staatsanwaltschaft, die Rechtsprechung zu ändern, indem sie alle haftbar macht, die zum möglichen Tatzeitpunkt dabei waren. Nach dem Prinzip „Mitgehangen, mitgefangen“ sollen alle Anwesenden durch „psychische Beihilfe“ und den Schutz der Gruppe zu den Taten beigetragen haben. Wobei es in diesem Fall, in dem kaum Schaden entstand, schon etwas gewagt ist, überhaupt von Taten zu sprechen.

Mit dieser eigensinnigen Rechtskonstruktion stützt sich die Staatsanwaltschaft auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 24. Mai 2017. Der BGH hatte im Fall einer Schlägerei von Fußball-Hooligans geurteilt, dass auch das „ostentative Mitmarschieren“ zu einer verabredeten Schlägerei den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllte. Etwa 100 Hooligans waren damals in Dreierreihen zum Ort der Prügelei marschiert.

„Das ist Feindstrafrecht“

Das versucht die Hamburger Staatsanwaltschaft auf Demonstrationen zu übertragen. Allerdings sind diese durch das Versammlungsrecht geschützt, weshalb die Staatsanwaltschaft schon im ersten Rondenbarg-Prozess gegen den damals 19-jährigen Italiener Fabio V. bemüht war, die Demonstration am Rondenbarg nicht als solche zu verstehen. Sie sprach konsequent von einem „Aufzug“, dessen Mitglieder sich für einen gemeinsamen Tatplan verabredet hatten, der ausschließlich darauf gerichtet war, Straftaten zu begehen. Die „einheitlich“ dunkle Kleidung der De­mons­tran­t*in­nen wertete sie als Beweis dafür.

Das Oberlandesgericht hatte Fabio V. damals fünf Monate lang in Untersuchungshaft schmoren lassen und ebenfalls seine dunkle Kleidung sowie seine angebliche Vernetzung in der internationalen linksextremistischen Szene als Ursache für eine Fluchtgefahr angeführt. „Das ist Feindstrafrecht“, sagt Nedelmann. „Das sieht man auch in der aktuellen Anklage.“

Dabei ist der Rondenbarg-Komplex keine Ausnahme innerhalb der juristischen Aufarbeitung der G20-Proteste. Das Nachspiel des Gipfels glänzt insgesamt nicht gerade im Licht der Gerechtigkeit. Nachdem zahlreiche De­mons­tran­t*in­nen zu Haftstrafen verurteilt wurden, wurde bis heute kein einziger Polizist wegen der teils exzessiven Gewalt verurteilt. In einem Fall wurde Anklage wegen Körperverletzung im Amt erhoben. Im Dezember war bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft in sechs Fällen bereits eingestellte Ermittlungen gegen Polizisten G20 wieder aufgenommen hat. Zum Prozess kam es bislang nicht.

Der Berliner Anwalt Ulrich von Klinggräff, der auch als Verteidiger am aktuellen Rondenbarg-Prozess beteiligt sein wird, blickt mit wenig Hoffnung auf Gerechtigkeit auf das bevorstehende Verfahren. „Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat sich an ihrem Vorhaben festgebissen, die Axt an das Demonstrationsrecht anzulegen“, sagt er. „Das ist ihre politische Intention.“ Durch die konsequente Negation des Versammlungscharakters versuche die Behörde, Demogeschehen zu entpolitisieren, um es auf Gewalthandlungen zu reduzieren und Beteiligte als Kriminelle behandeln zu können.

Von Klinggräff und Nedelmann stellen sich auf eine lange Verhandlung ein, die mit dem Urteil nicht enden wird. Es sei anzunehmen, dass entweder die Staatsanwaltschaft oder die Betroffenen Revision einlegen und die Entscheidung zum Bundesgerichtshof bringen werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.