Sechs Monate nach Hanau: Eine Frage des Vertrauens
Ohne Vertrauen kann eine Demokratie nicht funktionieren. Aber was, wenn man es verloren hat – so wie unsere Autorin nach dem Anschlag von Hanau?
D iese Geschichte beginnt am Donnerstag, den 20. Februar 2020. Ich weiß, dass die Geschichte für viele andere schon früher ihren Anfang nimmt. Aber für mich beginnt sie an diesem Tag. Am Donnerstag, den 20. Februar 2020 stehe ich mit Tausenden anderen Menschen auf dem Hermannplatz in Berlin und stelle fest, kein Vertrauen mehr in den deutschen Staat zu haben. Mich erschüttert das, für eine wie mich ist diese Feststellung verwunderlich.
Empfohlener externer Inhalt
Deutschland war für mich lange eine relativ heile Welt. Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, der sich selbst in die „untere Mittelschicht“ einordnet. Ich hatte Glück, ich konnte mit meinem deutschen Pass die Welt bereisen. Meine Eltern mussten mir nicht beibringen, wie ich mich in einer Polizeikontrolle zu verhalten habe, um nicht verletzt oder sogar umgebracht zu werden. Was mein Leben bislang schwer gemacht hat, würde ich größtenteils nicht unter Systemfehler, sondern unter Schicksalsschlag verbuchen. Ich habe keinen Grund gesehen, daran zu zweifeln, dass der Staat mich und mein Leben schützt. Dachte ich.
Am Mittwochabend, den 19. Februar 2020, ermordete ein Mann in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen in und vor zwei Shishabars, dann fuhr er nach Hause, erschoss seine Mutter und sich selbst.
Gökhan Gültekin. Ferhat Unvar. Sedat Gürbüz. Said Nessar Hashemi. Mercedes Kierpacz. Hamza Kurtović. Vili Viorel Păun. Fatih Saraçoğlu. Kaloyan Velkov. Ihre Gesichter und ihre Namen stehen jetzt im Internet, sie waren im Fernsehen und in den Zeitungen. Wenige Tage nach dem Attentat sehe ich sie auch in meiner Nachbarschaft, ihre Porträts kleben auf Leergutcontainern, Hauswänden, Stromkästen. Wir joggen jetzt an ihnen vorbei, wir setzen uns neben sie in einen Sonnenfleck und nippen an Feierabendgetränken.
Am 20. Februar 2020 sind meine Beine kalt, weil ich unter der Jeans keine lange Unterhose trage. Aus Lautsprechern höre ich Wortfetzen einer Rede, dann noch eine, es vermischen sich Rufe gegen Rassismus und für eine gerechte Wohnungspolitik.
Ich bin nicht gern hier, aber ich kann jetzt nicht allein sein. Also stehe ich hier und friere und höre zu, wenn eine Freundin sagt: „Meine Mutter hat seit Jahren einen gepackten Koffer unter dem Bett, für den Fall, dass wir hier weg müssen. Aber wohin würden wir gehen? Keine Ahnung.“ Ich stehe und friere und spüre, dass ich spät dran bin mit dem Vertrauensverlust.
Diese Geschichte beginnt am 20. Februar 2020, aber das war nicht der Tag, an dem ich das Vertrauen in den deutschen Staat verlor. Mein Vertrauen ist langsam verschwunden, unbemerkt. Ich erinnere mich an sonntägliche Kaffeekränzchen mit der deutschen Großfamilie, mit Standardsätzen wie: „Ach, den Politikern kannste eh nicht vertrauen.“ Dass man wählen geht, war trotzdem klar, am besten die SPD, also habe ich damals auch die SPD gewählt.
Meine Mutter wählt nie, früher haben wir deshalb oft gestritten. Ich habe erst später verstanden, dass sie in China ein ganzes Leben zurückließ, weil die Politik sich zu sehr in ihr Leben einmischte. Meine Mutter wollte ein gutes Leben, aber sie kam nicht nach Deutschland, weil sie an Demokratie glaubte. Sie kam, weil sie von Politik in Ruhe gelassen werden wollte.
Nach dem 20. Februar ist alles stummgeschaltet, ich auch. Im Hintergrund rauschen abgenutzte Sätze, sie erreichen mich nicht: Das ist ein Weckruf. Wir können nicht weitermachen wie bisher. „Ich funktioniere einfach“, sagt eine Freundin, „wie jedes Mal.“ Sie sagt jedes Mal und meint Nürnberg, Hamburg, Halle, München, Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen. Seit meinem Geburtsjahr 1990 wurden in Deutschland laut der Amadeu-Antonio-Stiftung mehr als 200 Menschen durch rechte Gewalt getötet.
Von 2000 bis 2007 hat der „Nationalsozialistische Untergrund“ zehn Menschen ermordet.
Enver Şimşek. Abdurrahim Özüdoğru. Süleyman Taşköprü. Habil Kılıç. Mehmet Turgut. İsmail Yaşar. Theodoros Boulgarides. Mehmet Kubaşık. Halit Yozgat. Michèle Kiesewetter. Als der NSU 2011 aufflog, war ich 21 Jahre alt. Bis dahin hatte ich von den Taten kaum etwas mitbekommen. Vielleicht standen die Namen der Opfer auf Plakaten, wie die Namen der Opfer von Hanau. Nichts davon habe ich in der Schule gelernt. In der Schule sprachen wir von Nazis im Präteritum und außerhalb der Schule sprachen wir gar nicht über Nazis.
Im März 2020 taue ich langsam wieder auf. Ich beginne, nach meinem politischen Vertrauen zu suchen. Wo kam es mal her? Und warum ist es verschwunden?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Suche beginnt – auch, weil Corona die Bewegungsfreiheit einschränkt – in meinem Kopf. Ich will verstehen, wie Vertrauen funktioniert. Was ich bisher darüber weiß, hat wenig mit Politik zu tun. Vertrauen gilt als etwas Gefühliges und wird häufiger in Frauenzeitschriften verhandelt als in der politischen Berichterstattung. Da geht es dann darum, ob und wie man nach einem Seitensprung noch vertrauen kann. Darum, dass Vertrauen zu den wichtigsten Faktoren einer gesunden Beziehung zählt. Je häufiger Vertrauen enttäuscht wird, desto schwerer ist es wieder aufzubauen, heißt es. Ist das mit dem Land, in dem man lebt, nicht auch so?
In der deutschen Verfassung taucht das Wort Vertrauen nur zwei Mal auf. Einmal in Artikel 104, der festlegt, dass Menschen, denen die Freiheit entzogen wird, eine Person ihres Vertrauens benachrichtigen dürfen. Und in Artikel 68, wo es um die Vertrauensfrage geht. Damit kann der oder die Kanzler:in prüfen, ob die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten noch hinter ihm oder ihr steht. Falls nicht, können der Bundestag aufgelöst und Neuwahlen angesetzt werden.
Wie SPD-Kanzler Gerhard Schröder im Juli 2005 die Vertrauensfrage stellte, ist eine meiner frühesten politischen Erinnerungen. Ich war 15 Jahre alt und achtete seit 9/11 beim „Tagesschau“-Gucken wirklich auf die Nachrichten. Wie es zu diesem Moment kam, hatte ich nicht ganz verstanden. Ich wusste nichts von der Skandalhaftigkeit der Sache, hatte nicht auf dem Schirm, dass er es schon zum zweiten Mal tat. Wenn ich mir die Szene heute auf Youtube ansehe, fällt mir auf, dass Schröder gar keine Frage stellt. Er sagt: „Also stelle ich die Vertrauensfrage“ – und nicht: „Vertrauen Sie mir?“
Am 6. Mai 2020 spricht auch Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer Pressekonferenz von Vertrauen. Verschwörungstheorien über die Coronapandemie haben gerade Konjunktur. Merkel sagt: „Die gesamte Bundesrepublik ist aufgebaut auf Vertrauen.“ Sie spricht über das Infektionsschutzgesetz, über Covid-19-Tests und die Zuverlässigkeit der Gesundheitsämter.
Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Der Satz vermittelt: Vertrauen ist ein Fundament. Wenn das wackelt, wackelt der Rest. Zum ersten Mal wird mir klar, dass jedes Kreuzchen, das ich bei einer Wahl vergeben habe, ein Vertrauensvorschuss war. Seit ich wahlberechtigt bin, habe ich Parteien und Mandatsträger:innen mit meiner Stimme Vertrauen geschenkt. Ich habe aber nie darüber nachgedacht, ob sie das verdient haben – oder darüber, wie sich Menschen fühlen, die in Deutschland leben, aber nicht wählen dürfen.
Am 25. Mai 2020 wird der Afroamerikaner George Floyd von einem Polizisten bei einer Festnahme getötet. Weltweit gehen Menschen für die „Black Lives Matter“-Bewegung und gegen Polizeigewalt auf die Straßen.
Mitte Juni 2020 diskutiert Deutschland über „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ – allerdings nicht durch, sondern gegen die Polizei.
Auf der Suche nach Antworten stoße ich auf das Zentrum für Vertrauensforschung der Universität Vechta. Wenige Tage später spreche ich mit Martin Schweer. Der 56-Jährige ist Professor für Psychologie und leitet das Zentrum. Er erforscht dort die Bedeutung von Vertrauen und Misstrauen für verschiedene Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Von dem Wissenschaftler lerne ich, dass klassische Faktoren wie Geschlecht oder Bildungsgrad im Bezug auf Vertrauen oft überschätzt werden. Eine differentielle Perspektive sei entscheidender, da jede:r eine andere Vorstellung von Vertrauen habe, sagt Schweer. „In der Beziehung zwischen Arzt und Patient spielt das zum Beispiel eine Rolle. Achtet jemand stärker auf Empathie, oder auf fachliche Kompetenz?“
Für mich ist Empathie fachliche Kompetenz. Wenn ich krank bin, muss ich Ärzt:innen vertrauen. Ich tue das eher, wenn sie mir gut zuhören, mich ernst nehmen, nicht nur Symptome behandeln, sondern nach Ursachen suchen. Gerade dann, wenn mein Leben bedroht ist, logisch.
Laut Schweer sind subjektive Erfahrungen besonders entscheidend für die spätere Fähigkeit, Vertrauen aufzubauen: Hat jemand sich von klein auf geborgen und sicher gefühlt? Hat jemand ein hohes Selbstvertrauen und ist deshalb eher bereit, auch anderen Vertrauen zu schenken?
Ich frage, wie wichtig es für mein politisches Vertrauen ist, dass ich mich und meine Lebensrealität durch Politiker:innen repräsentiert sehe.
Martin Schweer sagt: „Wir wissen, dass Sympathie und Antipathie erheblichen Einfluss auf den Vertrauensprozess haben können. Entscheidend ist vor allem die erlebte Ähnlichkeit, zum Beispiel ‚die versteht mich viel besser, weil sie Lebenserfahrungen mit mir teilt.‘“
Ich wüsste nicht, dass entscheidende politische Ämter schon mal von Personen bekleidet wurden, die mir ähnlich sind oder so auf mich wirkten. So ist repräsentative Demokratie ja auch nicht gedacht – klar, kann mich jemand vertreten, der oder die demografisch andere Merkmale hat. Trotzdem bringen Menschen oft ein besseres Verständnis für Themen mit, wenn diese Teil ihrer eigenen Lebenswelt sind.
Wem würde ich noch einmal Vertrauen schenken? Vielleicht einer Alexandria Ocasio-Cortez für Deutschland. Ich weiß, dass es schwierig ist mit politischen Lichtgestalten, aber bei der US-Demokratin scheint es mir einfacher. Weil wir die Welt ähnlich sehen, glaube ich. Weil sie die soziale Frage stellt. Weil sie die sexistische Beleidigung durch einen Abgeordneten nutzte, um über ein Systemproblem zu sprechen. Weil sie mit Politchoreografien bricht und den Status quo in Frage stellt. Weil parteipolitischer Aufstieg hierzulande lange dauert, wird es wohl noch zwei Legislaturperioden dauern, bis jemand zur Wahl stehen könnte, von der ich mich auf diese Art vertreten fühle, vermute ich.
Ich frage Martin Schweer: „Was waren wesentliche Momente in der jüngeren deutschen Geschichte, in denen das kollektive Vertrauen in den Staat erschüttert wurde?“ Ich erwarte, dass der Psychologe den NSU nennt.
Schweer denkt nach und sagt dann: „Die Flick-Affäre.“ Ich bin perplex, gebe zu, dass mir die Flick-Affäre nichts sagt und bitte um Erklärung. Schweer erzählt mir von dem Parteispendenskandal in den achtziger Jahren Der Flick-Konzern, der historisch stark an Rüstungsgeschäften beteiligt war, hatte damals der CDU, CSU, SPD und FDP Gelder in Millionenhöhe zukommen lassen.
„Ein erschütterndes und aufwühlendes Ereignis, weil man feststellte, dass parteiübergreifend Grenzen verletzt wurden. Vorurteile über korrupte und moralisch nicht integre Politiker wurden bestätigt“, sagt Schweer. Seine Erklärung leuchtet mir ein.
Ich frage trotzdem, warum er nicht den NSU genannt hat. Schweer schweigt kurz, dann sagt er: „Der NSU ist sicher auch zu nennen. Aber in der kollektiven Wahrnehmung nimmt er nicht den gleichen Stellenwert ein, weil sich weniger Menschen davon betroffen fühlen.“
Es ist eine einfache Rechnung mit schwer zu ertragendem Ergebnis. Die kollektive Wahrnehmung ist die Mehrheitswahrnehmung. Ist das die größte Schwäche der Demokratie – dass Mehrheiten gewonnen werden müssen, und deshalb vor allem Mehrheiten angesprochen werden? Dass das Vertrauen von Minderheiten verzichtbar ist?
Am 18. Juni brennt ein Lieferwagen vor der syrischen Bäckerei „Damaskus“ in Berlin-Neukölln aus, neben das Geschäft hat jemand „SS“ auf die Hausfassade geschmiert.
Im Juli hadere ich mit mir und diesem Text. Am 21. Juli 2020 beginnt vor dem Landgericht Magdeburg der Prozess gegen den Attentäter von Halle. Ich lese Sätze, die den 9. Oktober 2019 rekonstruieren, Sätze über das Grinsen des Angeklagten, über seine Reuelosigkeit vor Gericht. Ich lese seine Zitate: „Ich wollte ja keine Weißen töten“ und „Der hatte schwarze Haare, und ich bin der Meinung gewesen, das ist ein Muslim.“
Ich nehme die Sätze persönlich, ich fühle mich gemeint. Ich weiß, dass ich nicht in der ersten Reihe stehe, aber meine Zugehörigkeit war in Deutschland immer schon auch Verhandlungsmasse. Nicht für mich, aber für so viele andere, sodass ich mir manchmal selbst nicht mehr sicher bin.
Am 19. Juli 2020 ruft mir ein Passant „Scheiß Kanakin“ hinterher.
Im selben Monat erhalten Frauen, die sich öffentlich gegen Rassismus und Rechtsextremismus positionieren, Drohbriefe, unterschrieben mit NSU 2.0. Einige der Mails enthalten nicht öffentliche Daten der Adressatinnen. Sie wurden von Polizeicomputern in Hessen abgerufen.
Alle sind gewohnt schockiert, ich auch. Was macht man damit, wenn man sich an solche Drohungen gewöhnt hat? Schon zwei Jahre zuvor bekam die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die auch Hinterbliebene der NSU-Morde vertritt, Drohungen mit der gleichen Signatur. Darin stand auch, man wolle ihre Tochter „abschlachten“. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom Januar 2019 fragt eine Journalistin: „Ihre Tochter wird mit dem Tod bedroht, Ihr Vater, Ihre Mutter. Hat sich Ihr Leben dadurch verändert?“
Seda Başay-Yıldız, Rechtsanwältin
Ich frage mich, wie sich ein Leben durch solche Gewaltandrohungen nicht verändern sollte. Eine weitere Frage lautet, ob Başay-Yıldız noch Vertrauen in die Polizei habe. Sie antwortet nicht mit „Ja“ oder „Nein“, sie sagt: „Der Vertrauensverlust hat schon seit der Selbstenttarnung des NSU eingesetzt. Es wurden da so viele, bis dahin unvorstellbare Fehler gemacht.“
Am 4. August 2020 werden in Berlin zwei Staatsanwälte versetzt, die mit der Aufklärung der seit Jahren anhaltenden rechten Anschlagsserie in Neukölln befasst waren. Anlass sind Chatprotokolle, in denen ein rechtsextremes, ehemaliges AfD-Mitglied aus Neukölln schrieb, man müsse sich wegen der Anwälte keine Sorgen machen, einer habe angedeutet, er sei selbst AfD-Wähler.
Ich frage in meinem Umfeld nach Politiker:innen, die als vertrauenswürdig gelten. Viele, vor allem ältere Bekannte sagen: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Als die frühere Justizministerin der FDP im Jahr 1996 wegen des Beschlusses zum Großen Lauschangriff von ihrem Amt zurücktrat, war ich fünf Jahre alt und habe „Sandmännchen“ statt 20-Uhr-Nachrichten geschaut.
Ich telefoniere mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Ich frage: „Wie wichtig ist Vertrauen für eine Demokratie?“ Sie antwortet: „In einer Demokratie lebt Politik zu großen Teilen vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.“
Ich sage: „Vertrauen ist ein schwammiger Begriff.“ Sie sagt: „Ich möchte Vertrauen dahingehend konkretisieren, dass es um Berechenbarkeit und Verlässlichkeit geht. Bürgerinnen und Bürger müssen das Gefühl haben, sich auf das, was Politiker verkünden, verlassen und einlassen zu können.“
Sie sagt: „Vertrauen ist ein ganz wertvolles Gut. Man muss sich regelmäßig damit beschäftigen, wie man es erhalten und auch wieder erzeugen kann.“
Ich stimme ihr zu. Ich erzähle von meinem Gespräch mit dem Vertrauensforscher und frage, ob sie bei Momenten des kollektiven Vertrauensverlusts auch eher an die Flick-Affäre als an den NSU gedacht hätte.
Sie sagt: „Der Verfassungsschutz und die Polizei haben in Teilen sehr deutliche Defizite gezeigt. Deshalb glaube ich, sind diese Beispiele schon unterschiedlich zu gewichten. Ich hätte auch eher an Institutionenschwächung wie beim NSU gedacht.“
Ich sage: „Das ist doch ein Problem, wenn Vertrauen von Menschen über Jahre und Generationen wegbröckelt.“
Sie sagt: „Es ist eine permanente Verpflichtung von Politikern in der Demokratie, immer wieder neu Vertrauen zu stärken.“
Ich frage, wie man das Vertrauen der Hinterbliebenen des NSU oder von Hanau stärkt.
Sie sagt: „Ich denke, dass einmaliges Handeln, wie zuletzt mit der Ablösung von Herrn Maaßen als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, allein nicht ausreicht. Manchmal ist das unverzichtbar und richtig. Aber, wenn man Defizite erkannt hat, wie beim NSU, dann muss man sich neben der Aufarbeitung auch um grundlegende Verbesserungen von Strukturen kümmern.“
Ich spüre, dass mich ihre Wortwahl trifft, anstatt mich abzuholen.
Ich frage, wer sich kümmern muss, und wie.
Sie sagt: „Man muss sich zusammenfinden, Anlässe schaffen. Begegnungen mit Entscheidungsträgern schaffen und denen zuhören, die sich engagieren und betroffen fühlen, um damit zivilgesellschaftliche Zusammengehörigkeit zu ermöglichen. Und das muss schnell passieren. Man muss zeigen, dass mehr getan wird als nur ritualisierte Politik-Antwort.“
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dann spricht sie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und erzählt, wie sie 2010 einen runden Tisch eingerichtet hat. Sie macht das Feld weiter auf, vermutlich weil sie Erfahrung in diesem Bereich hat. Etwas fehlt mir, aber was?
Nach dem Gespräch bin ich ratlos. Leutheusser-Schnarrenberger hat Wichtiges gesagt, doch das Gesagte fühlt sich weit weg an. Mir fällt erst später auf, dass sie nicht einmal das Wort „Rassismus“ ausgesprochen hat. Dafür hat sie von Defiziten und Missständen geredet.
In den letzten Jahren habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, Reden für Bundespolitiker:innen zu schreiben, abgegriffene Formulierungen auszutauschen, einfach mal zu sagen: „Es gibt längst keine Worte mehr.“ Klar wäre auch das nicht genug. Tiefes politisches Misstrauen ist nicht mit einer Fernsehansprache überwindbar.
Am 13. August 2020 ergeben Recherchen der taz, dass ein Polizist und früherer Opferberater in der rechten Anschlagsserie in Berlin-Neukölln im April 2017 einen 26-jährigen Afghanen rassistisch beleidigt und verprügelt haben soll. Zeug:innen, berichten, er habe „Geh’ in dein Land zurück“ gerufen.
Sein Land, ein Klassiker. Das letzte Mal, als jemand das zu mir gesagt hat, setzte die Person noch ein „Nimm’ deine ganzen Krankheiten mit“ davor. Ich muss wieder an gepackte Notfallkoffer denken, unter zu vielen Betten in Deutschland. Ich weigere mich, einen zu packen.
Ich muss daran denken, was der Vertrauensforscher über Identifikation sagte. Vertraue ich Politiker:innen mehr, die mir ähnlich sind? Natürlich ist das keine einfache Rechnung, Vertrauen ist keine Summe aus demografischen Merkmalen. Angela Merkel und ich haben gemeinsam, dass wir Frauen sind. Gerhard Schröder und mich verbindet, dass wir nicht an Gott glauben, aber „mit der Auseinandersetzung nicht fertig sind“, wie Schröder mal in einer Dokumentation über sein Leben sagte. Nah fühle ich mich beiden trotzdem nicht.
Gibt es Politiker:innen, bei denen das anders wäre? Ich frage wieder nach, diesmal über Social Media, welcher Politikerin die Leute vertrauen. Viele, vor allem migrantische Menschen in meinem Alter, sagen: Aminata Touré.
Touré ist zwei Jahre jünger als ich, ihre Eltern sind aus Mali nach Deutschland geflüchtet, sie ist Politikerin bei den Grünen und Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein.
Als wir telefonieren, frage ich wieder: „Wie wichtig ist Vertrauen für eine Demokratie?“ und Touré sagt: „Ziemlich wichtig. Ich glaube, was eine Demokratie am meisten zersetzen kann, ist das Misstrauen in die politischen und staatlichen Institutionen und deren Vertreter:innen.“
Ich frage, wie es um das Vertrauen in Deutschland gerade bestellt ist.
„Ganz unterschiedlich“, sagt Touré. „Viele haben ein hohes Vertrauen, auch, weil sie von vorhandenen Strukturen profitieren. Aber es gibt auch Menschen in diesem Land, die den berechtigten Eindruck haben, dass staatliche Institutionen und Politiker:innen sich nicht ausreichend um Bedrohungslagen kümmern.“
Ich frage nach einem Beispiel.
Touré sagt: „Wenn du als jüdische Person Halle mitbekommen hast, oder als migrantische Person Hanau, wenn du mitbekommen hast, wie Debatten um Rassismus zuletzt geführt wurden und wie dünn die politischen Antworten darauf meistens waren, dann stärkt das kein Gefühl von Sicherheit.“
Ich frage: „Hören Politiker:innen nicht richtig zu?“
Touré sagt: „Seit 2015 wurde so viel über die Sorgen von Menschen gesprochen, die rechts sind. Es ist nicht so, dass Konservative und Liberale nie zuhören, wenn es um Ängste in der Bevölkerung geht. Die Frage ist nur: Bei wem hören sie konkret zu, und bei wem empfinden sie es als übertrieben?“
Ich erzähle ihr von dem Satz, den der Vertrauensforscher gesagt hat: „Der NSU nimmt in der kollektiven Wahrnehmung nicht den gleichen Stellenwert ein, weil sich weniger Menschen davon betroffen fühlen.“
Touré sagt: „Mich wundert das nicht. Und das ist Teil des Problems. Wenn man Dinge erst als Problem wahrnimmt, wenn sie einen selbst betreffen, ist es immer zu spät für Minderheiten. Eine Demokratie misst sich aber daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht.“
Sie spricht jetzt schneller: „Wie sicher sich Minderheiten fühlen, wie viele negative Erfahrungen sie machen und welche strukturellen Probleme sie haben, wird oft als ‚so ein Minderheitenthema‘ verhandelt. Die Leute verchecken dabei, dass es um ein Demokratiethema geht, um Grund- und Menschenrechte. Das ist kein Nice-to-have.“
Ich frage: „Es wird nicht ernst genug genommen?“
Sie sagt: „Bei Rassismus wird immer so getan, als ob es reicht, wenn die Zivilgesellschaft das einfach ächtet. Bei keinem verdammten anderen Politikfeld würde man sich erdreisten, das zu sagen. Natürlich muss man das ächten, aber das ist nicht alles, was wir erwarten dürfen.“
Ich frage, was ein Innenminister vermittelt, der eine Studie zu Racial Profiling bei der Polizei absagt.
„Er sagt damit: Ist mir scheißegal, ob ich dadurch Minderheiten den Mittelfinger zeige, und auch die Polizei selbst sich fragt, was das denn soll“, sagt Touré. Man könne über Rassismus in Deutschland nur bis zu einem bestimmten Punkt diskutieren. Dann werde wieder deutlich gezeigt, wer die Deutungshoheit und die Macht hat, Dinge zu tun oder zu lassen.
Sie sagt aber auch: „Es ist absolut nicht alles kaputt. Wir leben in einem demokratisch gut funktionierenden Staat, das weiß ich gerade wegen meiner Biografie und der meiner Eltern. Aber deswegen darf man den Anspruch nicht verlieren, ihn noch besser zu machen.“ Es sei aber auch der Job der Legislative, die Institutionen zu kontrollieren. „Dass das dann als Misstrauen in den Staat gelesen wird, ist eine völlig problematische Verhandlungsbasis. Ich kann Dinge kritisieren, die hier passieren, ohne diesen Staat abzulehnen. Wenn ich nicht an Demokratie glauben würde, dann wäre ich nicht im Parlament.“
Ich denke nach. Wenn ich nicht an Demokratie glauben würde, dann würde ich nicht so mit ihr ringen. Ich glaube, dass Touré, Leutheusser-Schnarrenberger und ich in unseren Haltungen nah beieinander liegen. Nach dem Gespräch mit Aminata Touré ist trotzdem etwas anders. Sie hat gesagt „Das macht mich wütend“ und „Da kriege ich Gänsehaut am ganzen Körper“. Sie hat geflucht, in perfekten Politiker:innensätzen. Ich merke, dass ich nicht nur angemessen fand, was sie gesagt hat, sondern auch wie. Ich denke, dass in diesen Nuancen etwas Entscheidendes liegt.
Am Mittwoch, den 19. August 2020 stehe ich wieder auf dem Berliner Hermannplatz. Es ist Sommer, es ist Pandemie, ich sehe niemanden ohne Maske. Etwa 5.000 Menschen sind hier, um den Opfern von Hanau zu gedenken. Ich schätze, die meisten sind jünger als ich.
Es läuft „Weck mich auf“ von Samy Deluxe, er rappt „Ich und du und er und sie und es sind besser dran, wenn wir uns selber helfen“, das Lied ist von 2001. Ein Redner nennt Hanau eine Zäsur, „nicht für die Regierung, oder die ganze Gesellschaft, sondern für uns. Wir und unsere Kinder werden vom Staat nicht beschützt. Viele denken darüber nach zu fliehen.“
Ich will nicht in einem Land leben, das seine Bevölkerung nicht beschützt und in dem man deshalb Misstrauen weitervererben muss. Ich will aber auch nicht gehen. Die Konsequenz ist, es irgendwie besser zu machen, besonders, wenn keine Zeit mehr bleibt. Ich habe Vertrauen verloren in das, was wir gerade sind. Ich muss auf das vertrauen, was wir sein werden – wenn wir wirklich nicht weitermachen wie bisher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert