Sechs Monate Alltag mit Corona: Gebt uns Heizpilze!
In Istanbul herrscht Maskenpflicht. Und es gibt dort die Lösung für den Berliner Winter. Die taz-Kulturredaktion über das Pandemieleben. Teil 6.
Maske heißt auf Türkisch Maske. Wer in der Türkei das Haus verlässt, ist verpflichtet, den Mund-Nasen-Schutz übers Gesicht ziehen. Deswegen sieht man auf den Straßen selten Menschen ohne Maske.
In den vergangenen elf Monaten war ich zweimal in Istanbul. Im Winter und im Sommer, nach den Ausgangssperren, die jedes Mal bedeuteten, dass die Istanbuler vier Tage lang ihre Wohnung nicht verlassen durften. In den Phasen dazwischen herrschte ein striktes Regime. Spazierengehen am Bosporus? Verboten.
Als ich das hörte, kam mir die Berliner Lockdownzeit wie das Paradies vor. Es waren sonntags fast keine Autos gefahren, ich hatte Radtouren durch die Stadt gemacht. Es schien wie eine Reprise auf die Zeit kurz nach dem Mauerfall. Ich fuhr nachts durch leere Straßen, und das fühlte sich nicht apokalyptisch an, sondern utopisch. Das erhabene Gefühl, die Welt gehöre einem allein, stellte sich ein, so ähnlich, wie nachts zu schreiben und zu sehen, dass nirgends mehr Licht brennt.
Im Winter fuhr ich in Istanbul von der Kulturakademie Tarabya, wo ich wohnte, oft mit der U-Bahn Richtung Taksimplatz. Abends oder nachts wieder zurück. Bürgermeister Ekrem İmamoğlu hatte gegen Skeptiker (das lohnt sich nicht) und Sittsamkeitsideologen (die jungen Leute sollen nachts gefälligst nach Hause gehen) durchgesetzt, dass die Metro am Wochenende durchfährt. Es war wohl eine der Maßnahmen, um das Wahlkampfmotto einzulösen, das ein 14-jähriger Fan von Ekrem Abi geprägt hatte: Her şey çok güzel olacak. Alles wird so schön werden.
Tagsüber war die U-Bahn voll. Es ging diszipliniert zu, aber saisongemäß wurde viel gehustet und geniest. Im Dezember hörte ich von der Epidemie in China. Die Idee, dass man die Ausbreitung eines Virus, das per Tröpfcheninfektion verbreitet wird, lokal eindämmen könnte, kam mir absurd vor. An Weihnachten hatte ich einen hartnäckigen Infekt, ich musste zwei Wochen lang husten. Ich huste sonst nie.
Die Filter und Routinen, die uns im Alltag vor sensorischer Überwältigung schützen, funktionieren an fremden Orten nicht mehr. Man registriert, beobachtet, sinniert. Im Sommer fragte ich mich, wann man Fünfe gerade sein lassen kann und die Maske leger über den Arm streifen. Auf der Promenade nahm ich sie oft ab. Auf dem offenen Deck der Fähren behalten sie die meisten auf. Manche nehmen sie ab und setzen sie nur kurz wieder auf, wenn neue Passagiere an Bord kommen. Für Frauen mit Kopftüchern gibt es Plastikteile, mit denen man die Schlaufen der Maske hinter dem Kopf zusammenhalten kann.
Oft habe ich im Winter vor der Ziba Bar gesessen. Manchmal setzte sich einer der Straßenkatzen auf meinen Schoß. Vor den Istanbuler Bars und Restaurants sind meist Heizungen angebracht, die von oben wärmen. Man muss beim Biertrinken nur für warme Füße sorgen. Ich hoffe auf die Renaissance des Heizpilzes in Berlin. Er wird uns über den Winter retten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit