piwik no script img

Schwerpunkte der nächsten KoalitionDasselbe in Grün

Im Wahlkampf spielten Polizeigewalt und rechtsextreme Netzwerke kaum eine Rolle. Auch mit der nächsten Regierung dürfte sich das nicht ändern.

Niemand hat Ideen oder Ambitionen: Demonstration der Querdenken-Bewegung in Leipzig Foto: opokupix/imago

M it Fahnen wollen progressive Bürger_innen dieses Landes ja in der Regel eher nichts zu tun haben. Aus guten Gründen. Die Red Flag allerdings hat nichts mit Nationalstolz zu tun, sie ist vielmehr ein metaphorisches Fähnchen, ein Warnsignal, welches auf toxische Verhaltensmuster in Beziehungen hinweisen soll. Auch in der Medizin gibt es solche Red Flags, um Hinweise auf eine mögliche Erkrankung früh zu erkennen. Wieso also nicht auch in der Politik?

Zwei Wochen sind die Bundestagswahlen nun her und mir sind während des Wahlkampfs so einige Red Flags aufgefallen, dank denen wir den groben Inhalt der anstehenden Koalitionsverhandlungen bereits vermuten können, egal ob Jamaika oder die Ampel kommt: Wir halten uns an das 1,5-Grad-Klimaziel und vergessen dafür Vermögenssteuer, Tempolimit und eine spürbare Erhöhung des Hartz-IV-Satzes. Vor allem aber ist klar, worüber gar nicht erst verhandelt werden wird: den Kampf gegen Rechtsextremismus und Polizeigewalt.

Oder wie oft haben Sie das Wort Rechtsextremismus von den nun verhandelnden stärksten Parteien gehört, als sie ihre Lösungsvorschläge für die brennenden Probleme dieses Landes präsentiert haben? Wahrscheinlich nicht sehr oft. Und das nach einer Legislaturperiode, in der mehrere rechtsextreme Netzwerke in Polizei und Bundeswehr bekannt wurden und in der es mindestens fünf tödliche rechtsextreme Anschläge gegeben hat, bei denen ein Regierungspräsident hingerichtet, eine Synagoge fast gestürmt und zehn Menschen in einer einzigen Nacht erschossen wurden. Wie kann das sein?

Das Aussparen dieses Themas, also der voranschreitenden Radikalisierung und Bewaffnung Rechter, ihrer Organisierung innerhalb der Sicherheitsbehörden ist eine absolute Red Flag, die uns sagt: Niemand hat Ideen oder Ambitionen, um Anschläge wie den in Halle 2019 oder den in Hanau 2020 zu verhindern. Nicht die CDU, nicht die SPD, nicht die FDP und auch nicht die Grünen.

Egal welche Konstellation also zustande kommt, auf Veränderung zu hoffen ist und bleibt naiv. Ja, die Umsetzung des Klimaziels ist lebenswichtig und ohne grüne Regierungsbeteiligung kaum denkbar. Aber eine Klimawende, die weder die Bekämpfung von Rechtsextremismus noch eine nachhaltige Sozial- und Migrationspolitik mitdenkt, ist im Grunde eine zutiefst konservative Politik. Was folgt also nach 16 Jahren Merkel? Es scheint, als bliebe alles wie gehabt, nur noch ein bisschen länger. Dasselbe in Grün sozusagen.

Kein Wort über Verfehlungen

Denn selbst das 1,5-Grad-Klimaziel wird ja nicht mehr verhindern können, dass Teile der Erde in absehbarer Zeit immer unbewohnbarer werden und somit mehr Menschen gezwungen sind, ihren Lebensraum zu verlassen und in reiche Länder wie Deutschland auszuwandern. Wie wird unsere Gesellschaft diese Menschen aufnehmen? Welche Haltung vertreten die Grünen eigentlich dazu? Bislang wird höchstens über die schnellere Einbürgerung von fest angestellten, gut verdienenden, seit vielen Jahren hier lebenden Ausländer_innen gesprochen, kein Wort aber über schutzsuchende und mittellose Geflüchetete, die von grünen Bundesländern bis vor wenigen Monaten etwa noch nach Afghanistan abgeschoben worden sind.

Überhaupt scheint Benachteiligung bei allen Parteien nur noch im Zusammenhang mit 2G und Impfpflicht Thema zu sein: Impfgegner_innen, die sich vermehrt in rechten Kreisen organisieren, dürfen bloß nicht diskriminiert werden. Risikogruppen, Geringverdiener_innen, Geflüchtete, von Rassismus und Antisemitismus Betroffene hingegen schon?

Das Klima mag uns ja vielleicht noch eine Weile verschonen. Wie fahrlässig zu glauben, dass es der Rechtsextremismus auch tun wird.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Fatma Aydemir
Redakteurin
ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Schon lange vor der letzten Wahl war klar: Wer nicht die Linken wählt, sorgt dafür, dass sich an der Durchseuchung aller deutschen Behörden mit Nazis nichts ändern wird.



    Die Uralt-Parteien haben diese in trauter Eintracht und gewiss nicht "aus Versehen" so eingerichtet (nach "Links" funktioniert die Auslese bekanntlich prächtig!), und die Grünen haben hinlänglich bewiesen, dass sie Wichtigeres zu tun haben, als sich (z.B.) um von PolizistInnen erst halbtot geprügelte und dann verbrannte Schwarze zu kümmern oder gar eine grundsätzliche Entfernung von Rechtsradikalen aus dem Staatsdienst zu betreiben.



    Wer die Grünen oder die Hauptverursacher der Nazi-Durchseuchung in deutschen Behörden gewählt hat, soll sich jetzt also bitte nicht beklagen!

  • Weil es im Katalog der Probleme der Menschheit eher weiter unten steht. Es gibt wichtigeres was angepackt werden muss. Klima zb.

  • Und hier auch, der determinismus der gesellschaften muss vollständig erkannt werden, bevor man sich die frage stellt, warum gewisse themen nur wenig relevanz haben. es ist nämlich egtl ganz einfach.

    diese reflektion, über den ganzheitlichen determinismus der gesellschaften, die basis der zivilisation und des progressivismus, findet leider viel zu selten statt. deswegen ist der deutsche mainstream liberalismus auch so unprogressiv. und nicht nur in deutschland. das sind historische und psychologisch tiefsitzende deterministische faktoren - also natürlicher und hkulturistorischer zwang - die hier relevant werden.

    so ist festzustellen, das viele menschen sehr begrenzt denken/handeln. nicht nur was die einzelnen themen angeht, sondern auch die zusammenhänge der themen. dies lässt sich in allen milieus feststellen, mehr oder weniger natürlich.



    bei progressiven und ganzheiltichen systemen halt weniger als bei exklusiven autoritären systeme.

    so sind die themen eben oft hoch zwanghaft in ihrer relevanz, da alle milieus nur begrenzt ihre relevanzen/prioritäten ändern über die zeit und so oft sehr begrenzt sind. das ist zivilisationsgeschichte - kulturanthropologie/soziologie/sozialgeschichte - sowie die geschichte der freiheit. leider lernen die politologen und alle nur wenig darüber.

    ganz besonders die themen, die noch mehr reflektion fordern, werden von den reaktionären elementen verdrängt und klein geredet.



    es sollte also in den talkshows und medien, vor allem über diese zwanghaftigkeit und reaktionismus geredet werden, der sich der tiefe und vielfalt der ganzheitlichkeit und somit einem konsequenten sozialen handeln verweigert. so zwingt man die engstirnigen dazu, ihren zwang und illiberalität und fehlende vielfalt zu ändern. aber der weg der reformation ist ein langer und beschwehrlicher ..... sogar trotz millionen mikrosope, teleskope und schulen sowie all die literatur (inkl medien) über liebe und hass, die wir mittlerweile haben.

    • @Christian Will:

      Um mal Hemingway zu zitieren: "Write drunk, edit sober."



      "ganzheitlichen determinismus der gesellschaften"



      Bitte was? Wenn Gesellschaft deterministisch wäre, könnte man das mit der Politik ja auch gleich ganz lassen, ändern könnte sie ja sowieso nichts.

  • Da muss ich Ihnen --leider-- beipflichten.

    Vor allem mit dem derzeit aussichtsreichsten "Polizeigewalt? Es hat keine Polizeigewalt gegeben" HH-G20 Kanzlerkandidaten.

    Es entsteht der Eindruck, dass die Probleme, die durch gute "Unternehmenskommunikation" wegkommuniziert werden können einfach nicht mehr existieren.

    Pushbacks? Ertrunkene im Mittelmeer? Solange der Deutsche Michel sich nicht darüber aufregt...