Schulen in der Coronakrise: Schichtarbeit
In Jena fehlen Klassenräume, in einer Berliner Schule steht plötzlich das Gesundheitsamt – Schulalltag mit Corona. Wie geht es nach den Ferien weiter?
U m sechs Uhr fünfundvierzig betritt Antje Schure das Schulgebäude jeden Tag, steigt die breite Treppe des einstigen Städtischen Lyzeums hinauf, betrifft ihr Büro im ersten Stock, gleich neben dem des Schulleiters. Antje Schure ist 61 Jahre alt, und ohne sie wäre das Kollegium der Integrierten Gesamtschule „Grete Unrein“ in Jena aufgeschmissen. Sie organisiert die Stundenpläne für alle Klassen und Schularten, die die Gesamtschule unter einem Dach vereint: Hauptschule, Realschule, Gymnasium. 650 Schülerinnen und Schüler, mehr als 80 Lehrkräfte. Schon ohne Pandemie ist das eine Leistung. Mit Pandemie erst recht.
Empfohlener externer Inhalt
Seitdem sich die Bundesländer auf eine schrittweise Rückkehr zum Regelunterricht verständigt haben, muss Schure einen Schulbetrieb mit Hygieneregeln, geteilten Klassen und dezimiertem Kollegium managen. Was es noch komplizierter macht: Ändert sich die allgemeine Lage, ändert sich auch der Schulbetrieb. Also ständig.
Anfangs, weil die Stadt Jena und das Land Thüringen unterschiedliche Vorgaben bei Maskenpflicht und Gruppengröße im Unterricht machten. Dann, weil nach den Unterrichtsversuchen mit den Abschlussklassen auch die anderen Jahrgangsstufen schrittweise zurückkamen. Und aktuell, weil Antje Schure auch die Abschlussprüfungen bedenken muss – die Räume, die sie dafür braucht, das zusätzliche Personal. „Ich stelle jeden Tag einen komplett neuen Stundenplan zusammen“, sagt Schure. „Anders funktioniert es nicht.“
Zum Beweis öffnet Schure – rote Chucks, runde Brille, kurzes Haar – eine Excel-Tabelle auf ihrem PC und scrollt durch die Stundenpläne der letzten sieben Wochen. Ende April kam als Erstes die Abiturklasse zurück in die „Grete Unrein“, Anfang Mai folgten die Abschlussklassen der Haupt- und Realschule. Mittlerweile haben wieder alle Jahrgangsstufen Unterricht, bis auf die 7. und 8. In einem Monat sind Sommerferien.
Der Unterricht erfolgt unter Auflagen: Alle Klassen sind geteilt, maximal 11 Personen dürfen zusammen in einem Raum sein. Als die Weisungen aus dem Ministerium kamen, hat das Kollegium Tische auf Abstand gerückt, Desinfektionsmittel besorgt und sich ein System ausgedacht, mit dem sich die einzelnen Gruppen möglichst nicht begegnen. Der neue Schulalltag hat sich eingespielt. Auf den Fluren und im Pausenhof tragen die Jugendlichen ihre bunten Mundschutzmasken und halten brav Abstand. In den Klassenzimmern stehen die Fenster offen, an den Zweiertischen sitzen Schüler:innen nun allein.
Vor allem aber wechseln sich die Gruppen mit dem Präsenzunterricht ab. Während die eine Klassenhälfte in der Schule ist, bekommt die andere Fernunterricht. Nach einer Woche wird getauscht. Jede Gruppe hat ihr fixes Klassenzimmer, für alle Fächer. Diese Maßnahme bringt die Stundenplanerin Schure am meisten in Bedrängnis: Wenn diese Woche auch die letzten beiden Jahrgangsstufen zurückkehren, geht ihre Rechnung nicht mehr auf. „Mit unseren 31 Klassenräumen kommen wir nicht mehr hin“, sagt Schure, die selbst Französisch unterrichtet. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als die 9. und die 12. Klassen bis kurz vor den Sommerferien nach Hause zu schicken.
Mit ihrem Schichtbetrieb ist die Jenaer Gesamtschule dennoch voll im Soll. Ende April haben sich Bund und Länder darauf verständigt, dass jede Schülerin und jeder Schüler vor den Sommerferien tage- oder wochenweise in die Schule zurückkehren soll. An der „Grete Unrein“ werden es für alle Schüler:innen sogar vier Wochen gewesen sein. Davon können andere Schulen nur träumen. In manchen Städten klagen Eltern, dass ihre Kinder maximal ein paar Stunden die Woche wieder in die Schule dürfen.
Die Unzufriedenheit vieler Familien mit dem Mix-Modell dürfte ein Grund dafür sein, warum die Länder sich bei den Schulöffnungen beeilen. Seit Wochen lautet die Parole: Möglichst bald zum Regelunterricht zurückkehren. Ohne geteilte Klassen, ohne Abstandsregeln. Sachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Thüringen haben dies an ihren Grundschulen schon umgesetzt. Erst vor wenigen Tagen haben die 16 Kultusminister:innen bekräftigt, dass spätestens nach den Sommerferien Schluss sein soll mit Kleingruppen und Schichtbetrieb. Also auch an der Gesamtschule „Grete Unrein“, an der fast zwei Drittel des Kollegiums zur Corona-Risikogruppe gehört.
Doch wie kann ein Regelunterricht funktionieren, wenn die Mehrheit der Lehrkräfte – nähmen sie Rücksicht auf die eigene Gesundheit – wenig beitragen kann? Oder anders gefragt: Wie sinnvoll ist Präsenzunterricht, wenn das halbe Kollegium zu Hause bleiben sollte?
Spricht man Rüdiger Schütz auf das kommende Schuljahr an, zuckt er mit den Achseln. Eigentlich kann es ihm gleichgültig sein. Schütz, ein fröhlicher Mittsechziger mit weißer Mähne, Schulleiter der IGS „Grete Unrein“, scheidet im August aus dem Schuldienst aus. Wie seine Schule die neue Linie umsetzt, darüber müssen sich andere den Kopf zerbrechen. Doch Schütz macht sich Gedanken. 40 Jahre lang hat er hier gearbeitet, seine komplette Schullaufbahn. „Ich glaube, so schnell, wie es sich die Ministerien wünschen, wird es nicht gehen“, sagt er. Schon jetzt laufe die Schule ja nur, weil fast alle gefährdeten Kolleginnen und Kollegen bereit waren, weiter Kleingruppen zu unterrichten. Und weil viele jüngere und gesunde Lehrer:innen fremde Klassen übernahmen. Ein Engagement, das Schütz weder für selbstverständlich hält noch überbewerten möchte. „Wir sind vielleicht einfach so sozialisiert worden: gemeinsam füreinander einstehen.“ Er könne aber jeden Kollegen verstehen, der als Angehöriger einer Risikogruppe nicht ab August wieder vor einer vollen Schulklasse stehen möchte.
Wie hoch der Anteil der Risikogruppen in den Lehrerzimmern ist, wissen die Ministerien nicht. Was ihnen bekannt ist: dass bundesweit jede achte Lehrkraft über sechzig ist, das sagt das Statistische Bundesamt. Schätzt man dann noch grob einen Anteil Raucher:innen über fünfzig und Personen mit Vorerkrankungen hinzu, könnte sich die Risikogruppe innerhalb der gesamtdeutschen Lehrerschaft auf bis zu 20 Prozent summieren. Auch wenn sich nicht alle von ihnen im neuen Schuljahr vom Präsenzunterricht freistellen lassen – der Regelunterricht dürfte seinem Namen kaum gerecht werden. Schon jetzt, mitten in der Coronakrise, melden manche Bundesländer einen Krankenstand von 15 bis 20 Prozent unter ihren Lehrer:innen.
Vielleicht hoffen die Länder auf den Sachsen-Effekt: Als der Freistaat Mitte Mai als erstes Bundesland auf Abstandsregeln in Kitas und Grundschulen verzichtete, hagelte es Kritik an der Entscheidung, vor allem von Lehrerverbänden. Bei den Freistellungen vom Präsenzunterricht schlägt sich das dann nieder: Laut sächsischem Landesamt für Schule und Bildung haben sich in den ersten beiden Wochen nach Schulöffnung gerade mal 3 Prozent der Grundschullehrer:innen wegen Corona befreien lassen.
Auch Thüringen hat in der ersten Woche des regulären Grundschulunterrichts diesbezüglich gute Erfahrungen gemacht, heißt es aus dem Kultusministerium in Erfurt. Eine stichprobenartige Erhebung habe zudem ergeben, dass 80 Prozent der Lehrkräfte in Risikogruppen freiwillig am Präsenzunterricht teilnähmen. Auf das Pflichtbewusstsein seiner Beamt:innen scheint das Bildungsministerium zu bauen: „Die Tatsache, dass in Thüringen der Wiedereinstieg in den Schulbetrieb bei allen Sorgen und Schwierigkeiten, die es gibt, gut gelingt, zeigt mir, dass unsere Lehrkräfte mitziehen und mit Kreativität und Flexibilität auf die immer neuen Situationen reagieren“, sagt der Bildungsminister Helmut Holter (Linke) der taz. Selbstverständlich nehme er die Sorgen der Lehrkräfte ernst. Ein Ergebnis dieses Versprechens: Das Ministerium hat vergangene Woche FFP2-Schutzmasken für Schulen bereitgestellt. Außerdem sollen sich Lehrkräfte noch vor den Sommerferien auf Corona testen lassen können. Hilft das?
Anruf bei Kathrin Vitzthum. Sie ist Landesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW und mit dem Bildungsminister regelmäßig im Austausch. Sie sagt: „Man sieht, dass Herr Holter die Sorgen der Lehrkräfte ernst nimmt. Aber 45 Minuten mit so einer Maske unterrichten ist aus unserer Sicht nicht praktikabel“, sagt Vitzthum. Außerdem sei es absurd, dass die Schülerinnen und Schüler, von denen ja eine Ansteckungsgefahr für Lehrkräfte ausgehe, im Unterricht ausdrücklich keine Maske tragen müssten.
Vor allem aber kritisiert Vitzthum, dass das Ministerium die Entscheidung über Freistellung oder freiwilligen Präsenzunterricht auf die einzelne Lehrkraft abwälzt. „Ich sehe, dass der gesellschaftliche Druck, die Schulen zu öffnen, sehr hoch ist.“ Diesen Druck spürten die Lehrer:innen in den Lehrerzimmern: „Wer lässt schon gerne die Kolleg:innen im Stich?“ Die Politik nehme in Kauf, dass sich Lehrer:innen mit dem Coronavirus ansteckten. Denn eines sei klar: „Es wird mit Sicherheit auch im neuen Schuljahr zu Corona-Ausbrüchen an Schulen kommen“.
Tatsächlich mussten in den vergangenen Wochen einige Schulen wegen Infektionen schließen: in Wuppertal zwei Grundschulen, in Magdeburg hat es binnen weniger Tage 11 Schulen erwischt. Selbst Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), die sich zuletzt klar pro Öffnungen ausgesprochen hatte, warnte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der normale Schulbetrieb sei „nicht gesichert“ Das Virus sei nicht weg. „Wir müssen immer wieder damit rechnen, dass Schulen geschlossen werden müssen.“
Am Mittwoch vergangener Woche erhält Philipp Schütze einen Anruf. Es ist 9 Uhr, Schütze Lehrer an einer Gemeinschaftsschule in Berlin, eigentlich soll er dort gleich arbeiten, als er das Gerücht hört: Ein Coronafall an der „Paula Fürst“, an seiner Schule. Es ist ausgerechnet jener Tag, an dem Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsident:innen die Abstandsregeln für verzichtbar erklären. Schütze, selbst Klassenleiter einer jahrgangsübergreifenden Grundschulklasse, weiß zunächst nicht: Ist seine Klasse betroffen? Kann er jetzt überhaupt in die Schule gehen?
Ein paar Stunden später steht Schütze – kurze Hose, grauer Mundschutz mit weißen Punkten – in dem geräumigen Klassenzimmer im fünften Stock des klotzigen Backsteingebäudes im Berliner Stadtteil Charlottenburg. Er erzählt von dem Anruf, den vielen Fragen und der entscheidenden Antwort: Seine Klasse stand nicht in Kontakt mit der erkrankten Schülerin, er kann sie unterrichten. Oder genauer: die halbe Klasse. Denn auch in Berlin –herrscht strikter Schichtbetrieb, auch an den Grundschulen. Für Schützes Schüler:innen heißt das: Gruppe A kommt am Montag, Gruppe B am Mittwoch. Wie alle übrigen Kinder der Jahrgangsstufen 4–6. Am Dienstag und Donnerstag sind die Jahrgangsstufen 1–3 an der Reihe. Am Freitag werden einzelne Schüler:innen betreut und der Kontakt mit den Eltern gepflegt. Dazwischen: Homeschooling – Lern-Apps und Videokonferenzen.
„Manche Schülerinnen und Schüler kommen aber dennoch dreimal die Woche“, sagt Schütze. Etwa, wenn beide Eltern berufstätig sind oder der Lernerfolg aus einem anderen Grund nur durch den Schulbesuch sichergestellt werden kann, sie bekommen eine Art Notbetreuung. Und dann erzählt er von den vielen Unterschieden seiner Schülerschaft. Davon, dass hier Hochbegabte und Kinder mit Förderstatus zusammen lernen. Damit das funktioniert, setzt die Schule auf individualisierten Unterricht. „Wir machen null Frontalunterricht“, sagt Schütze. Tatsächlich arbeiten alle Kinder still an ihren Einzeltischen, nur selten müssen Schütze oder sein Co-Klassenleiter, der ebenfalls anwesend ist, eine Frage beantworten. „Die Selbstständigkeit der Kinder macht sich jetzt natürlich bezahlt“, sagt Schütze. Viele könnten zu Hause problemlos lernen, nur einem geringen Teil mache der Schichtbetrieb zu schaffen.
Und die Eltern? „Gemischt“, sagt Schütze.Insgesamt spüre er von den Eltern seiner Schüler:innen aber keinen Druck, die Schule sofort und ganz zu öffnen. „An anderen Schulen ist der Leidensdruck der Eltern offenbar höher.“ Das hat er so in seinem Umfeld gehört.
Die Sommerferien, die in Berlin schon Ende Juni beginnen, kann Schütze dringend gebrauchen. „So viel gearbeitet wie seit Corona habe ich noch nie“, sagt er. Er ist Klassenleiter, Ansprechpartner für seine Schüler:innen, Technikberater für die Eltern und Administrator der Schulcloud, dazu regelmäßige Notfallbetreuung und ständig wechselnde Vorgaben aus dem Berliner Senat. Und natürlich hätten sie im Kollegium auch Diskussionen über die Coronamaßnahmen. Zum Beispiel über die Maskenpflicht.
Die Bildungsverwaltung drückt sich davor, ihren Lehrer:innen den Mund-Nasen-Schutz in der Schule vorzuschreiben. „Wenn es aber nicht alle machen, macht es auch wenig Sinn“, sagt Schütze. Kolleg:innen von ihm sehen das anders, vor allem wenn gleichzeitig die Kinder, die während der Schulzeit mühsam getrennt werden, am Nachmittag zusammen spielen. Schütze ist konsequent. Er trägt im Schulgebäude stets Maske, auch wenn er länger spricht.
Brigitte Kather empfängt ohne Maske. Die Mitarbeiter vom Gesundheitsamt sind erst vor ein paar Minuten weg. Sie haben Abstriche von allen genommen, die mit der kranken Schülerin in Kontakt standen, die Ergebnisse kommen in zwei Tagen. Kather ist die Leiterin der Schule, sie achtet auf Abstand, das Fenster steht weit offen. Viel Zeit hat sie nicht. Am Freitag ist eine Abiturprüfung im Freien geplant, kommende Woche dann steht schon die Zeugnisvergabe für die restliche Schule an.
Kommt der Verzicht auf Abstandsregeln nach dem Sommer zu früh, Frau Kather? „Wenn ich an unseren Coronafall heute denke, bin ich nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung ist“, antwortet sie. Für sie sei sehr positiv, wie schnell und professionell das Gesundheitsamt gehandelt habe. Kather sagt aber auch: „Wenn wir selbst entscheiden dürften, wie wir im neuen Schuljahr starten, würden wir weiter im Schichtbetrieb bleiben.“
Inzwischen sind die Ergebnisse aus dem Gesundheitsamt da: Fünf Schüler:innen und drei Angestellte der Paula-Fürst-Schule sind positiv getestet worden. Die Abiturfeier wurde abgeblasen, seit Montag ist die Schule geschlossen. Nun kommen die Sommerferien. Für einige Berliner Schüler:innen starten sie mit einem Coronatest.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“