Schriftstellerin Terézia Mora über Fiktion: „Ergibt viel mehr Sinn als die Realität“
Ende Oktober wird Terézia Mora der Georg-Büchner-Preis verliehen. Im Stichwortinterview spricht sie über ihre ungarische Heimat, die Liebe und das Glück.
Erste Erinnerung
Der Stein, auf den ich gestürzt bin als Kleinkind und von dem ich bis heute die Narbe zwischen den Augen habe.
Aufwachsen in Petöháza
Der Geruch der Zuckerfabrik, der Geruch des Thermalbads.
Kindheit
Ich war etwa fünf, als ich begriff, dass ich ein Kind war – ab da konnte ich es kaum mehr erwarten, keins mehr zu sein.
Scheidungskind
Galt als Makel. Ich habe auch gelitten. Aber nicht darunter, dass irgendwer meinte, das sei ein Makel. Ist es nicht.
Mutter-Tochter-Beziehung
Seitdem ich selbst Mutter bin: die beste.
Leben: 1971 geboren, wuchs Terézia Mora als Teil der deutschen Minderheit im Dorf Petöháza im Westen Ungarns zweisprachig auf. 1990 zog sie zum Studieren nach Berlin, wo sie auch heute noch lebt, in Prenzlauer Berg. Terézia Mora ist verheiratet und Mutter einer Tochter.
Werk: Mora hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht, zuletzt „Die Liebe unter Aliens“ (bei Luchterhand). 2006/2007 hatte sie die Tübinger Poetikdozentur inne, gemeinsam mit Péter Esterházy, von dem sie zudem mehrere Werke vom Ungarischen ins Deutsche übersetzt hat.
Preis: „Prekären Existenzen und Menschen auf der Suche“ widmet sich Mora, und zwar „bildintensiv und spannungsgeladen – mit ironischen Akzenten und analytischer Schärfe“. So steht es in der Jurybegründung des Georg-Büchner-Preises, der Mora am 27. Oktober verliehen wird.
Ungarns deutschsprachige Minderheit
Erst jetzt, da die Kinder von damals, die bleiben durften, alt sind, begreife ich, dass es irgendwann womöglich gar keine deutschsprachige Minderheit in Ungarn mehr geben wird. Die jüngste Generation ist entweder ungarischsprachige Mehrheit oder deutschsprachige, woanders lebende Mehrheit, wie meine Tochter.
Leben im Sozialismus
Leben in Absurdistan. Das Traurige ist, dass das Leben im heutigen Ungarn auch ein Leben in Absurdistan ist. Auch wenn es ein leicht anderes Absurd ist. Sollte das etwa wirklich unser Ding sein?
Hungarologie und Theaterwissenschaft
Ich kann alles, was ich dort gelernt habe, benutzen. Nicht ein einziger Tag meines Studiums war vergeudet. Das ist wunderbar.
Berlin Anfang der 90er Jahre
Der Große Umbau. Als noch alles möglich schien. Weil wir jung waren und die Staaten für einen Moment auch so aussahen, als wären sie wieder jung. So etwas kann natürlich nicht ewig anhalten.
Drehbuchschreiben
Es könnte alles so schön sein. Leider habe ich mein Studium als sehr formalistisch in Erinnerung. „Ihr müsst das so machen, weil Hollywood und RTL es so machen.“ Und was, wenn nicht? Weil man dieses „und was, wenn nicht?“ in der Prosa mit weniger Nerverei haben kann, schreibe ich Prosa.
Schönste Filmszene
Ich würde mich nicht festlegen wollen.
Schreiben
Wie Mimosen, wenn sie nicht gegossen werden. So reagiere ich auf die Abwesenheit von Literatur. Schon nach drei Tagen sehe ich aus und fühle ich mich, als wäre ich dem Tode nahe.
Ohropax
Lärmempfindlich zu sein ist wirklich kein Spaß.
Migrationsliteratur
Ich würde lieber mit einem Chiquita-Aufkleber auf der Stirn herumlaufen.
Literarisches Vorbild
Zu viele. Nehmen wir Esterházy.
Schönster Satz
„…als alles zu Ende ging, damit neue Allesse anfangen konnten …“ (Esterházy)
Realität
Sehr, sehr seltsam, findet ihr nicht?
Fiktion
Ergibt viel mehr Sinn als die Realität. Natürlich. Was denn sonst.
Übersetzen
Lieblingsspiel.
Die Redewendung „Ein Dorf hinter Gottes Rücken“
Es ist nicht schön von Gott, dass es solche gibt. Allerdings wollen wir auch die Verantwortung der Dörfler nicht unterschlagen: man muss schon schauen, wo man hinsiedelt.
Péter Esterházy
Wir waren vollkommen unterschiedlich. Was uns verband war die Liebe zur Arbeit und zur Sprache, die allerdings so groß war, dass wir uns wieder ähnlicher wurden.
Identität
Eigentlich eine ziemlich intime Frage, nicht? Aber wenn wir sie schon stellen: warum nicht jemandem, der, sagen wir, 88 ist, und noch nie den Ort verlassen hat, an dem er geboren wurde.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Heimat
Der Baum in Ungarn, unter dem ich immer lese, und Berlin.
Viktor Orbán
Der tragische Fall (der nicht das erste Mal in der Geschichte vorkommt), wenn der talentierteste Politiker eines Landes diesem nicht gut tut.
Angela Merkel
Ist wirklich nicht zu beneiden. Was würde eigentlich wirklich passieren, wenn sich CDU und CSU trennen würden? Blieben immer noch die internationalen Narzissten. Wirklich nicht zu beneiden.
Europa
Ich möchte nie wieder so isoliert leben wie als Kind. Wenn das irgendwie möglich wäre, wenn wir das hinkriegen könnten, würde ich das sehr begrüßen.
Ungarn 2018
Jeder Ungar, der sich 1989 genau dieses oder auch nur ein ähnliches 2018 gewünscht hat: Hände hoch. (Zusatzaufgabe: Erinnere dich, was du dir gewünscht hast. Verwirkliche es.)
Prenzlauer Berg 2018
Anderswo nerven die Anderen auch.
Frauen
Ich fange erst an zu ahnen, was eine Frau ist, seitdem ich eine Tochter habe. Faszinierend.
Männer
Alle Menschen sind gleich und Männer sind Menschen.
Feminismus
Jeder und jede, der oder die kein Feminist, keine Feministin ist, ist ein Ausbeuter und eine Verräterin.
#MeToo
Wichtig. Es geht ja nicht ums Flirten, sondern um Machtmissbrauch. Sich respektvoll einer anderen Person nähern, das müsste doch zu schaffen sein?
Liebe
Ich habe Glück. Ich liebe seit geraumer Zeit dieselben Leute, die mich auch lieben. Ich bin ganz verwirrt, wieso das bei anderen so kompliziert ist. Aber ich sollte nicht überheblich sein. Möglicherweise habe ich einfach Glück.
Erotik
Das ist eine sehr individuelle und, was mich anbelangt, eine private Sache. Ich verstehe, warum man sich öffentlich damit auseinandersetzen muss. Aber ich muss es nicht.
Ehe
Es ist mir unbegreiflich, wie jemand mehr als einmal heiraten kann.
Seitensprünge
Langweilig.
Muttersein
Du zahlst einen sehr viel höheren Preis, als du es dir je vorstellen könntest. Er ist so hoch, dass du dir die Frage, ob es sich gelohnt hat, gar nicht mehr stellen kannst. Aber so ist es eben mit der Schöpfung.
Schlafen
Ich frage mich, ob ich jemals wieder mehr als sechs Stunden am Stück schlafen werde. Ich schätze, solange ich mich nicht jeden Morgen fragen muss, ob ich jemals wieder mehr als vier Stunden am Stück schlafen werde, ist die Situation noch ganz gut.
Träumen
Früher träumte ich mehr.
Ängste
Der Mensch ist so, dass er sich nicht gerne in engen Räumen, in fliegenden Flugzeugen, in großen Menschenmengen usw. aufhält. Er mag es außerdem nicht, wenn ihm jemand in den Nacken hechelt. Andererseits bekommt er auch Angst, wenn er sich völlig allein fühlt. Es ist schwierig.
Feinde
Meine Feinde existieren alle nicht mehr.
Glück
Während des Marsches zur Zwangsarbeit ergötzte sich Ernő Szép an der Schönheit der Natur.
Schönheit
Pflanzen sind schön. Meistens reicht das aus. Siehe: Glück.
Geld
Ich würde das, was ich tue, auch umsonst tun. Aber ich tu’s für Geld.
Luxus
Eine Badewanne. (Mit warmem Wasser natürlich.)
Schlechte Angewohnheiten
Ich beschimpfte Idioten auf der Straße als Idioten. Meine Familie findet das peinlich. „Aber, meine Süßen, jemand muss es ihnen sagen. Wie sollen sie sonst dahinterkommen?“
Hoffnungen
Ich habe gelernt, dass ich, was die Gesundheit angeht, beträchtlich mehr hoffen muss, als dass ich von etwas ausgehen oder etwas beeinflussen kann. Ansonsten hoffe ich, ein so würdevolles Leben wie möglich leben zu können.
Älterwerden
Dass meine Augen schlechter werden, betrachte ich als eine persönliche Beleidigung.
Grabsteinspruch
Besser nicht gereimt.
Gott
Deus semper maior, „Gott ist immer größer“, ist ein gut brauchbarer Satz auch für Atheisten.
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