Schriftstellerin Dagrun Hintze über Fußball: „In einem Rudel von Alphatieren“
In ihrem Buch „Ballbesitz“ erklärt die Lübecker Autorin Dagrun Hintze die Kulturtechnik Fußball. Als Frau über den Sport zu schreiben ist immer noch eine Besonderheit.
taz: Frau Hintze, gibt es eine weibliche Perspektive auf Fußball?
Dagrun Hintze: Mit dieser Frage sind wir schon gleich mitten drin im Minenfeld. Ich würde sagen: Es gibt eine weibliche Perspektive auf alles. Also auch auf Fußball. Aber da müsste ich ausholen.
Bitte.
Ich habe Anfang der 1990er-Jahre feministische Literaturwissenschaft studiert. Damals war das zentrale Thema Differenz. Es ging um die Fragen, was ist eine männliche Sprache, was ist eine weibliche, wie unterscheiden sich die Wahrnehmungen der Geschlechter. Heute wird über Differenz – jedenfalls jenseits von Comedy oder Ratgeberliteratur – so gut wie gar nicht mehr gesprochen, auf diesem Thema liegt inzwischen fast ein Tabu.
Warum?
Weil viele Frauen meinen, wir haben doch schon bewiesen, dass wir alles genauso gut können wie Männer, wir müssen nicht mehr über die Unterschiede reden. Sondern eben nur noch über das konkret Politische: Wie lassen sich Beruf und Karriere vereinbaren, wie sieht es aus mit geschlechtergerechter Bezahlung und so weiter.
Sie aber glauben, dass sich die Frage der Differenz nicht erledigt hat. Wie zeigt sie sich beim Fußball?
Einen Mann kannst du nachts wecken und er sagt dir, wie bei irgendeiner wichtigen Partie im Jahr 1983 der Spielstand in der 82. Minute war. Diese Art von Faktenspeicherung gibt mein Gehirn nicht her – möglicherweise ist das für Männer auch ein Weg, das Gefühl von Kontrolle zu behalten, das ich in diesem Zusammenhang gar nicht brauche.
45, ist eine in Lübeck geborene Autorin. Sie schreibt Theaterstücke, Lyrik, Prosa und Essays und publiziert außerdem über zeitgenössische Kunst und Dokumentartheater.
2017 erschien ihr Buch: „Ballbesitz“, 104 Seiten, Mairisch Verlag.
Was geht Ihnen durch den Kopf beim Thema Fußball?
Bei Spielen, die ich gesehen habe, weiß ich, wer gewonnen hat. Ich habe Erinnerungen an die Atmosphäre und die „Dramaturgie“, aber die Datenbank im Kopf steht mir nicht zur Verfügung. Mich interessiert in Bezug auf Fußball sowieso eher das Psychologische, das Politische und Gesellschaftliche. Man würde das wohl im weitesten Sinne „Fußballkultur“ nennen.
Mit welchem Verein halten Sie es?
Borussia Dortmund.
Geboren wurden Sie in Lübeck und gelebt haben Sie in vielen Städten, aber nicht in Dortmund. Wie sind Sie zur Borussia gekommen?
In „Ballbesitz“ erzähle ich die Geschichte von einem Ex-Freund, der mich – nachdem wir uns näher gekommen waren – unter sehr fadenscheinigen Begründungen erst mal nicht mit nach Hause nehmen wollte. Wegen seiner BVB-Bettwäsche, wie er mir später gestand. Das war sozusagen meine Initiation. Wir sind seit Ewigkeiten getrennt, aber die Liebe zum BVB hat sich auf merkwürdige Weise übertragen. Und dann geht es mir ja vor allem um schönen und leidenschaftlichen Fußball – wo findet man den bitte sonst?
Hätte es auch ein anderer Club werden können?
Es wäre für mich aus ideologischen Gründen nie infrage gekommen, für Bayern München zu sein. Und der HSV interessiert mich nicht wirklich. FC St. Pauli, ja klar, das ist nun keine Kunst, den toll zu finden. Natürlich gehört denen zumindest ein Teil meines Herzens.
Warum interessiert Sie der HSV nicht?
Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Struktur da irgendwie verrottet ist, mit diesem Investor, der bei den Spielerverpflichtungen mitredet und so weiter. Immer wieder sollte der Verein reformiert werden, und immer wieder haben die das nicht so richtig geschafft. Zwischendrin dachte ich sogar, dass es gut wäre, wenn die endlich mal absteigen würden, um sich neu zu sortieren. Aber bei ihrem letzten Bundesligaspiel gegen den BVB habe ich mich allen Ernstes dabei ertappt, plötzlich Sympathien für den HSV zu hegen – weil da auf einmal eine echte Mannschaft auf dem Feld stand. Das gab’s ja schon länger nicht mehr. Vielleicht ändert sich unter Gisdol also wirklich was.
Wie geht’s Ihnen mit dem FC St. Pauli?
Großartiger Verein mit einer einzigartigen Identität – in Deutschland kann da höchstens Union Berlin noch mithalten. Die stehen für tolle Werte. Aber sind eben auch zu einer Marke geworden, die längst jenseits von Fußball funktioniert – und die zu jedem ordentlichen Hipster-Image dazugehört.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihre Fan-Erlebnisse bei Spielen der deutschen Mannschaft bei der EM in Frankreich. Was interessiert Sie an der Nationalmannschaft?
Am Auftreten der Nationalmannschaften und ihrer Fans kann man sehr viel über die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse ablesen. Und natürlich ist bei „La Mannschaft“ ganz viel inszeniert, aber für mich verkörpert dieses Team trotzdem die Vorstellung einer offenen und toleranten Gesellschaft. Mir gefällt, dass da nicht nur sympathisch, sondern auch politisch-reflektiert aufgetreten wird. Was man jetzt von Kroatien oder Russland zum Beispiel nicht unbedingt sagen könnte.
Haben Sie ein National-Trikot zu Hause?
Ich habe mal ein altes Ballack-Trikot geschenkt bekommen. Aber das trage ich nur, wenn ich krank bin.
Wie reagieren andere Frauen auf Ihr Buch?
Gerade von Frauen, die professionell im Bereich Fußball arbeiten, bekomme ich sehr positive Rückmeldungen, was mich natürlich freut. Jessy Wellmer, zum Beispiel, die ab Sommer die Sportschau moderiert, war ganz aus dem Häuschen. Ich war zu Gast in ihrer Radiosendung und sie erzählte, dass sie vor einer Weile mit einem Kollegen von den Öffentlich-Rechtlichen zusammengesessen hätte, der nach zwei Gläsern Wein meinte: „Du kannst als Frau sowieso nie vernünftig über Fußball berichten, weil Du die Erfahrung nicht hast, Männerfußball zu spielen.“ Nach dieser Logik können Männer auch keine Gynäkologen werden, das ist ungefähr das Argumentationsniveau, auf dem wir uns da bewegen. Nichtsdestotrotz sind solche Einstellungen offenkundig noch immer verbreitet.
Für wen haben Sie das Buch geschrieben?
Wenn ich schreibe, habe ich eigentlich nie so etwas wie eine „Zielgruppe“ vor Augen. Aber mir gefällt es schon sehr gut, dass sich meine Freundinnen mit „Ballbesitz“ beschäftigen. Viele von ihnen arbeiten im kulturellen Bereich und interessieren sich nicht die Bohne für Fußball – viel zu prollig, reiner Kommerz. Und wenn sie dann bei einer EM oder WM doch mal mit vor dem Fernseher sitzen, reden sie oft so unglaublich blödes Zeug, dass es mich schier wahnsinnig macht.
Was kann Ihr Buch da leisten?
Durch das Buch nehmen viele zur Kenntnis, dass man bei Fußball eben nicht mal so eben einsteigen kann. Dass man – wie bei allen Kulturtechniken – viel gucken und sich einlassen muss, um Sachverstand zu entwickeln. Und da höre ich jetzt oft: „Okay, vielleicht hast Du recht, vielleicht ist Fußball wirklich ein Feld, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen sollte.“
Was sagen die Männer?
Von Männern bekomme ich auch viel positives Feedback. Ich beschreibe ja, wie emotional der Fußball sein kann und erzähle Anekdoten, die den Fußball-Fan in seinem Dasein bestätigen. Da finden sich offenbar viele wieder. Nur von Männern kam bislang allerdings auch die Anmerkung, die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen sei im Zusammenhang mit Fußball doch gar nicht mehr der Punkt. Dem würden die im professionellen Fußballbereich tätigen Frauen wohl sofort widersprechen.
Im Buch gibt es den Satz: „Männer lieben die Komplexitätsreduktion.“ Was ist damit gemeint?
Der Satz erscheint im Zusammenhang mit dem Thema „weibliche Stimmen werden in bestimmten Situationen und bei bestimmten Themen gern mal überhört“. Ich kenne solche Situationen selber sehr gut. Du steckst fest in einem Rudel von Alphatieren, jeder hat schon zwei Bier getrunken, und ich sage als Frau dann etwas über Fußball, Politik oder Wirtschaft. Niemand reagiert darauf, niemand nimmt es überhaupt wahr. Aber wenn ein Typ kurz darauf genau dasselbe sagt, halten es alle für einen interessanten Beitrag. Da muss man manchmal etwas laut werden, um die Jungs daran zu erinnern, dass sie moderne Männer sind und keine Höhlenbewohner. Wobei das natürlich alles liebevoll gemeint ist – diese ganze Testosteron-Sache muss ja auch furchtbar anstrengend sein.
Worum geht es in Ihren Theaterstücken?
Viele meiner Stücke basieren auf einer journalistischen Recherche. Am Staatsschauspiel Dresden habe ich zum Beispiel ein Stück über heutige jüdische Identität gemacht, auf der Bühne standen zehn Dresdner Jüdinnen und Juden, als „Experten des Alltags“ sozusagen. In meiner jüngsten Arbeit in Dresden ging es um das Selbstverständnis von Journalisten.
Worum geht es in Ihren fiktionalen Stücken? Das Theater Aalen zeigte letztes Jahr Ihr Episoden-Stück „Samstag in Europa“.
Ich habe das Stück gemeinsam mit einer türkischen Autorin, die in Paris lebt, geschrieben. Meine zwei Episoden spielen in Hamburg und Budapest, ihre in Istanbul und Paris. Jeweils in einem Bahnhofscafé, in dem die unterschiedlichsten Menschen aufeinandertreffen – wir sind ausgegangen von dem Begriff der „gefährlichen Begegnungen“, den der Soziologe Heinz Bude geprägt hat – also ein Kontakt zwischen Menschen, die sich gegenseitig nicht mehr „lesen“ können, die nicht mehr über einen gemeinsamen Code verfügen.
Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
Nach dem Studium bin ich ans Theater gegangen und wollte unbedingt Regisseurin werden. Im Laufe der Jahre hat sich dieser Traum aber verflüchtigt, das Stadttheater kam mir immer mehr vor wie eine zu enge und abgeschlossene Welt. 2002 habe ich dann auf der Documenta11 gearbeitet, als Kunstvermittlerin – seitdem schreibe ich regelmäßig über zeitgenössische Kunst. Was das literarische Schreiben angeht, ging’s erst mal ziemlich gut los: 2003 gewann ich einen kleinen Lyrikpreis, 2005 den Open Mike – da war ich schon 34 und hatte immer noch keinen Schimmer vom Literaturbetrieb.
Ihre Teilnahme am Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 2008 haben Sie in keiner guten Erinnerung. Warum?
Da wird eine Atmosphäre aufgebaut, die einem vermittelt: Hier geht es jetzt um Leben und Tod. Und es ist echt schwer, sich dagegen abzugrenzen. Ich funktioniere nicht gut in diesen Betrieben, das gilt für die Literatur genauso wie für Theater oder bildende Kunst.
Wie läuft es mit dem aktuellen Buch?
Ob „Ballbesitz“ ein Verkaufserfolg wird, weiß ich nicht. Aber die Konstellation „Frau schreibt über Fußball“ beziehungsweise „Theaterautorin schreibt über Fußball“ trifft auf sehr großes Medieninteresse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee