Schreckensszenarien in Belarus: Der Eiserne Vorhang fällt
Jetzt, wo der Flugverkehr gestoppt ist, wird die Angst der Menschen noch größer. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 89.
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I n der letzten Zeit werden die Nachrichten immer schlimmer: Die besten Medien des Landes wurden geschlossen, einige von deren Mitarbeiter*innen festgenommen. So manche*r hat es geschafft, in nur einem Tag das Land zu verlassen, Konten wurden gesperrt (rund 300 Personen bekommen keinen Lohn, kein Urlaubs- oder Mutterschaftsgeld mehr). Ein Menschenrechtler ist im Gefängnis zu Tode gekommen, der ehemalige Chefredakteur des Kanals Nexta und seine Freundin wurden festgenommen. Das I-Tüpfelchen war die Nachricht, dass wir von Belarus aus viele Länder nicht mehr anfliegen können.
„Jetzt haben wir auch noch einen sauberen Himmel über unseren Köpfen“, wird auf Facebook gelästert. Lukaschenko hat nach den Wahlen wiederholt einen ähnlichen Satz geäußert (eine Art „Nachkriegssatz“).
„Seien wir mal ehrlich: Wir haben immer gewusst, dass Billigflieger Belavia (staatliche belarussische Fluggesellschaft, Anm. d. Red.) töten werden“, scherzt der Gründer und Chef von BY-help (Stiftung, die repressierten Belaruss*innen hilt, Anm. d. Red.) auf seiner Seite. Nur wusste niemand, dass das ein Flieger schaffen würde.
Der Himmel wurde immer mit Freiheit assoziiert. Und was haben wir jetzt? Im denkenden Teil der belarussischen Gesellschaft breitet sich Apathie aus. Viele warteten auf den Sommer – darauf, in den Urlaub zu fahren, um sich zumindest ein wenig auszuruhen und einen Tapetenwechsel zu haben.
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Mich beunruhigt noch eine Tatsache: Wenn wir unmittelbar bedroht sind, können wir nicht einfach ein Ticket für den nächstbesten Flug kaufen, um unser geliebtes Land zu verlassen, so wie andere das gemacht haben. Solche Geschichten gibt es viele. Heute fliegen schon den ganzen Tag Flugzeuge über Minsk, mit einer Staatsflagge am Heck. Wohin die Reise geht, ist unklar.
„Ich weiß nicht, wer ich bin: ein Flüchtling, ein Downshifter oder ein Expat“, schreibt der ehemalige Mitarbeiter des Onlineportals tut.by Vadim auf seiner Seite. „Wenn man in einer halben Stunde packen muss, um mit einem Koffer und einem One-Way-Ticket den nächsten Flug zu nehmen, ist man ein Flüchtling.
Wenn Du ein Jobangebot von einem der größten Technikberatungsfirmen in der EU hattest, aber abgelehnt hast und dort geblieben bist, wohin dein Flug ging – nach Odessa – dann eher ein Downshifter. Wenn Du am Meer lebst in einem Haus aus dem 19.Jahrhundert, in einer großen Wohnung mit 4 Meter hohen Räumen und Kamin, wo einst der Drehbuchautor von „Elimination“ arbeitete und Dir noch etwas Zeit zum Leben bleibt, wahrscheinlich ein Expat.“
„Ich bin schon seit drei Monaten weg, von zu Hause, Verwandten und Freunden. Mit einer kleinen Tochter und einer schwangeren Frau. Sie hat gemäß den Gesetzen des,Sozialstaates' keinen Anspruch auf Zahlungen für das Kind, da sie nicht mehr in Belarus ist. Danke, dass BySol (unterstützt Familien von politischen Gefangenen in Belarus, Anm. d. Red.) und ByPol (Organisation von Ex-Geheimdienstlern, die sich gegen Lukaschenko stellen, Anm. d. Red.) vor dem potentiellen Interesse der Bestrafer an mir gewarnt haben. Und der Grund ist lächerlich. An meiner Stelle könnte wahrscheinlich jeder sein, der am falschen Ort war.“
„Warum sollte ich weggehen?“, kommentiert die Bloggerin Maria die Frage, die den Belaruss*innen jetzt oft gestellt wird. „Ich habe so lange versucht, mir eine eigene Wohnung zu kaufen und mir mein Leben einzurichten, von dem ich geträumt habe, alle meine Verwandten sind hier.“
Im Staatsfernsehen von Belarus werden die Leute namentlich beleidigt. Dort wird darüber gesprochen, wer als nächstes „Repressionen zum Opfer“ fällt.
Ich habe mir auch russisches Fernsehen angesehen und bin von der neuen Rhetorik schockiert: „Das sind unsere neun Millionen Menschen (ein russischer Journalist über die Belaruss*innen), das sind unsere sechs Provinzen und wir werden sie Lukaschenko bald wegnehmen.“
„Ich fühle mich irgendwie unwohl“, schreibt der Kollege Sascha aus Kiew. „Gott bewahre, dass sie Euch mit Russland vereinen. In Anbetracht unseres Donbass und der Krim weiß ich nicht, was zu erwarten ist.“
Während die belarussischen Behörden Repressionen gegen das eigene Volk durchführen, sieht jemand dabei zu. Angst liegt in der Luft.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
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