Schlagloch Bundestagswahl: Wir sind nicht adäquat
Das Anti-Merkel-Lager erstickt an seiner eigenen Genügsamkeit. Wir bewegen uns einfach nicht auf der Höhe der Herausforderungen.
M ir fehlten bisher die Worte, und der Ausgang der Wahl mag helfen, sie zu finden, in einer äußerst vorläufigen Form. Mir fehlten die Worte für ein Gefühl, das mich seit geraumer Zeit immer wieder befällt: ein schmerzliches Gefühl von kollektiver Unangemessenheit. Wir sind nicht adäquat. Das klingt rätselhaft, und man mag im ersten Moment nur spüren, dass es um ein Nichtzusammenpassen geht, um ein Zurückbleiben, vielleicht auch um einen Verlust.
Zunächst: Wer ist „wir“? Leicht zu sagen: Es mag sich jede und jeder selbst dazu rechnen – aus der Grundmenge derer, die sich nicht abfinden wollen mit der Welt, so wie sie aufgetischt wird. All jene also, die Ansprüche stellen und daraus einen Teil ihrer Identität und Integrität schöpfen. Profaner gesagt: Ein gewisser Prozentsatz derer, die Rot-Rot-Grün gewählt haben oder mit guten Gründen zu Hause blieben. Ich glaube nicht, dass dieses Wir so klein ist, aber wir machen uns klein.
Nicht adäquat sein, das heißt: Wir sind nicht auf der Höhe der Herausforderungen – ob Europa-Krise, Überwachungsstaat, Syrien, Flüchtlinge. Wo man hinschaut Unterwerfung unter falsche Logiken, intellektuelle Hasenfüßigkeit. Wir bleiben unter unseren Möglichkeiten, in einem bizarren, schwer erklärbaren Ausmaß.
Der Wahlkampf war dafür wie ein Spiegel, ein Spiegel unserer Genügsamkeit. Das beleidigend niedrige Niveau der Plakate und Debatten hatte auch mit uns zu tun, die wir uns über solche Volksverdummung gern erhaben fühlen und ihre Wirkung auf andere diagnostizieren. Im Unterschied zu diesen anderen fühlen wir uns chic, solange wir unsere aufregenden virtuellen Kreise ziehen und uns ständig unserer Bedeutung versichern.
Als neulich 10.000 Menschen gegen den Überwachungsstaat demonstrierten, sprachen Medien von einer „großen Demonstration“. Wie konnte es so weit kommen? Über die Massenbewegung gegen die Volkszählung von 1983 wird heute gern herablassend gesagt, sie sei Ausdruck der Hysterie der damaligen Zeit gewesen.
Tatsächlich lebte der Protest von der Fantasie dessen, was möglich wäre – was heute möglich ist. Der Protest war hochmodern, denn er ging davon aus, dass das technologisch Mögliche auch politisch möglich gemacht werden kann. Dagegen steht heutzutage die radikale Fantasieverweigerung: Wir sehen das technologisch Mögliche plus das politisch bereits Exekutierte, wollen uns aber nicht vorstellen, dass es gegen „uns“ angewandt werden kann.
Fußweh am Computer
Als ich dieser Tage einen Personalausweis beantragte, wurden meine Fingerabdrücke genommen – welch eine Anmaßung des Staates! Und wir lassen es geschehen. Man muss nur ein paar Seiten Günther Anders lesen, um zu spüren, wie weit wir zurückgefallen sind. Der Mensch müsse seine „moralische Fantasie“ ausbilden, die Wahrnehmung des Undenkbaren schulen. Die Welt ist nur mit geschlossenen Augen zu erkennen. Versponnener Kram. Heute machen wir die Augen auf und sehen nichts.
Frigga Haug sagte kürzlich in einem Gespräch mit dem Kollegen Wolfgang Storz, Bewegungen hätten nie eine einzige Ursache gehabt, sondern eine Vielzahl von Gründen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt überschnitten hätten. Findet das Überschneiden heute nicht mehr statt, weil wir alle digital in so vielen Parallelitäten leben – und uns damit ständig aus der Affäre ziehen? Als würde man mit dem Share-Button von seinem Brot abgeben. Als täten einem nach der Onlinepetition die Füße weh.
Warum hat es in Deutschland keine einzige große Demonstration zu Syrien gegeben? Ich meine damit ganz schlicht: eine Demonstration gegen Assad, gegen das Abschlachten der Zivilbevölkerung, gegen das Foltern von Kindern. Ein moralisches Statement. Ein Statement, das man abgibt, weil es einen danach drängt. Weil man es nicht erträgt, vor gewissen Bildern nur als Konsumentin zu sitzen. Der Furor, etwas nicht ertragen zu können, war immer die Triebkraft politischer Bewegungen und ein Ausweis ihrer Humanität. Das machte die leidenschaftliche Geste adäquat.
Nun weckten ein bedrohter Sackbahnhof und die ihn umgebenden Bäume mehr Empathie als gefolterte Kinder. Bäume und Bahnhof sind anfassbar, wird man mir entgegenhalten, und die syrischen Kinder zu weit weg. Aber was sagt das aus über uns?
Der deutsche Meinungskäfig
Bei der Verleihung des taz-Preises für Zivilcourage rief der Jenaer Pfarrer Lothar König dem Publikum zu: „Frontex macht für euch die Drecksarbeit!“ Der Pfarrer wirkte betrunken, aber Betrunkene und Kinder sagen bekanntlich die Wahrheit. Hier: das Adäquate. Was wäre, wenn die Grenzen wirklich, wie wir es fordern, offen wären und sich den Flüchtlingen ein tausendfaches Berlin-Hellersdorf entgegenstellen würde? Könnten wir sie schützen? Vermutlich nicht. Diese Antwort spricht nicht gegen die Utopie der offenen Grenzen; sie spricht nur gegen Anflüge von Arroganz unter uns vermeintlich besseren Menschen. Wir sind den Flüchtlingen kein adäquater Partner, denn unser Einfluss auf die Öffentlichkeit ist stets um so vieles geringer, als sie zu Recht erwarten.
Dasselbe gilt für Europa, für ein anderes, sozialeres Europa. Natürlich war Steinbrück hier der unübertreffbar Inadäquate. Ein Sozialdemokrat, der in diesen Zeiten nicht etwa den Spekulanten den Stinkefinger zeigt, sondern den Journalisten. Welch ein Abgrund. Und wie abgründig, daran nur Stilkritik zu üben.
Unsere Genügsamkeit baut solchen Szenen die Bühne. Kann es jetzt wirklich sein, dass die Sozialdemokratie die Möglichkeit, Europa gerechter zu gestalten und den verhängnisvollen deutschen Druck zu vermindern, nicht nutzt, sondern sich lieber unter Merkels Kuratel stellt? Für vier weitere Jahre Kontaktscheue gegenüber der Linkspartei können spanische Rentner ruhig aus dem Fenster springen. Das ist in dem seltsamen deutschen Meinungskäfig adäquat.
Ein letzter Blick in den Spiegel der Genügsamkeit: Wir haben, was den Lebensstil betrifft, vieles verändert. Aber die Zeit, sich daran zu berauschen, ist lange vorbei.
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