Schauspielerin über Debütroman: „Schweigen brechen“

Der Roman von Lea Draegers erzählt von vererbten Traumata, patriarchaler Gewalt. Auch die Psychiatrie-Erfahrungen einer 13-Jährigen sind Thema.

Auf sehr magere Mädchenschultern sind Haare gefallen, die geschniten wurden

Die Heldin von „Wenn ich euch verraten könnte“ will sich nicht mehr fügen Foto: Anja Lehmann/Visum

Als die 13-jährige Hauptfigur in Lea Draegers Debütroman „Wenn ich euch verraten könnte“ schwer magersüchtig in der Psychiatrie landet, arbeitet sie sich entgegen dem gängigen Klischee nicht an der Mutter ab, sondern nimmt die Männer ihrer Familie ins Visier. In einem Notizbuch schildert sie in vielen kleinen Episoden, wie die Gewalt des Urgroßvaters und des Großvaters das Leben der Frauen in ihrer Familie prägt – zunächst in Tschechien, später in Deutschland, wohin die Familie infolge der Niederschlagung des Prager Frühlings emigriert. Doch die Traumata der Eltern- und Großelterngeneration ziehen mit; sie prägen unterschwellig die vordergründig heile Welt der Reihen­haussiedlung der 1990er Jahre, in der die Ich-Erzählerin aufwächst.

Die Trigger-Warnung zu Beginn des Buches macht klar: Es geht um schweren patriarchalen Machtmissbrauch, und dieser wird auch in all seiner Brutalität erzählt. Trotzdem handelt es sich um ein hoffnungsvolles Buch. Momente der Grausamkeit und Momente der Zartheit fügen sich ineinander und legen nach und nach das patriarchale Gefüge offen, aus dem sich die Ich-Erzählerin befreien will. In einem Kreuzberger Café spricht Lea Draeger darüber, wie sie zum Schreiben gekommen ist, und über die Rolle der Frauen im Patriarchat.

taz: Frau Draeger, Ihre Hauptfigur kämpft nicht nur mit ihren Traumata. Sie zweifelt auch an sich selbst und an ihrer eigenen Wahrnehmung. Warum haben Sie sich für eine solche Figur entschieden?

Lea Draeger: Sie erzählt ihre Familienbiografie aus Sicht der Frauen und erhebt sich damit über die Männer, vor allem über den Großvater, der die Familiengeschichte zuerst als Roman verarbeitet hat und das Recht für sich beansprucht, alleiniger Chronist dieser Geschichte zu sein. Es ist ein Weg der Befreiung, und den wollte ich auf eine realistische Art und Weise erzählen. Denn über Generationen hinweg haben Männer einfach behauptet, dass sie alles wissen und können. Es erfordert Mut, das zu hinterfragen und das patriarchale System herauszufordern. Selbstzweifel gehören da dazu. So ein Prozess der Selbstermächtigung verläuft nicht linear, und so erzähle ich es auch in meinem Buch: Es gibt einfach viele Rückschritte.

Jahrgang 1980, ist seit 2015 als Schauspielerin Ensemble­mitglied am Maxim Gorki Theater in Berlin und bildende Künstlerin. „Wenn ich euch verraten könnte“, soeben erschienen beim Verlag hanserblau, ist ihr erster Roman.

Trotzdem erwartet man in einer Geschichte über Selbstermächtigung nicht unbedingt eine solche Brutalität. Bei der Lesung zu Ihrem Buch im Berliner Maxim Gorki Theater haben Sie gesagt, dass Sie diese Härte bewusst gewählt haben. Warum?

Mir geht es darum, Schweigen zu brechen. Ich habe für das Buch viele wirklich schlimme Geschichten von Mädchen und Frauen recherchiert. Machtmissbrauch und patriarchale Gewalt sind krasse, harte Themen, und ich finde, das sollte man auch so schildern. Nur so kann sich etwas verändern. Das Gleiche gilt für meine Figur. Nur indem sie sich all dem Schmerz, all dem Trauma und all den Verquickungen stellt, kann sie sich daraus befreien. Dass sie das tut, heißt, dass sie eine Liebe für das Leben in sich trägt. Das macht keiner, der nicht leben will. Mir ist völlig klar, dass normalerweise anders über Selbstermächtigung geschrieben wird: starke Frauen, die sich gegen die Männer wehren. Die Großmutter, die Widerstandskämpferin war, so etwas in der Art. Mir war es wichtig, ein alltäglicheres, realistisches Buch zu ­schreiben, in dem das Verwobene sichtbar wird.

Es gibt eine brutale Szene, in der der Urgroßvater seine Tochter verprügelt. Die Urgroßmutter kratzt derweil einen Topf am Herd aus, danach versorgt sie die Wunden der Tochter, spricht das Abendgebet und schmiert dem Mann ein Brot. Die Szene liest sich so, als wäre das der übliche Ablauf nach einem Gewaltausbruch des Urgroßvaters. Könnte man sagen, dass die Urgroßmutter sich da auch ein Stück weit freiwillig fügt?

Ich würde hier nicht von Freiwilligkeit sprechen. Die Frauen in meinem Roman versuchen in einem System zurechtzukommen, das ihnen durch seine klaren Strukturen Sicherheit gibt, sie aber auch gefangen hält. Wenn man so will, sind sie Opfer und Täterinnen zugleich. Sie sind so sehr in den patriarchalen Strukturen verwoben, dass auch diese Rollen verwoben sind.

Sind auch die Männer Opfer und Täter zugleich?

Im Grunde ja. Nicht umsonst beginne ich den Roman damit, wie der Großvater seinen Vater erhängt auffindet. Gerade der Großvater und Urgroßvater sind voller Angst: Angst davor, ihre Stellung nicht behaupten zu können, Angst davor, dass die Frauen merken, dass sie Angst haben.

Der Vater der Ich-Erzählerin ist eine überraschend positive Figur. Trotzdem ist auch in dieser Generation noch längst nicht alles gut. Warum?

Die Mutter hat durch ihre Mutter destruktive Glaubenssätze verinnerlicht. Sie ist eine widersprüchliche, schillernde Figur. Der Vater ist sehr weich; er kommt in dem System selbst nicht besonders gut zurecht. Sie entzieht sich ihm, hat ständig Liebhaber, zieht sich auffallend an, schminkt sich stark. Einerseits könnte man das als Rebellion deuten, andererseits könnte man auch sagen, dass sie den Männern gefallen will. Ich wollte das bewusst offenlassen.

Sprachlosigkeit ist ein weiteres wichtiges Thema Ihres Romans – gerade auch zwischen den Frauen. Die Großmutter ist sogar offen bösartig gegenüber ihrer Tochter, bezeichnet sie als „Nutte“. Warum ist sie so hart?

Die Großmutter hat sehr viel Leid erfahren und richtet dieses Leid nun gegen andere, um überleben zu können. Ihr Glaube macht ihr Leben erträglicher, aber durch ihre starre Auslegung des Katholizismus nimmt sie ein sehr dualistisches Denken an, und sie urteilt über andere in Kategorien: Hure/Heilige, erfolgreich/nicht erfolgreich, schön/hässlich. Die größte Härte des Buches ist für mich eigentlich, dass sich die Frauen der Familie zwar lieben, aber nicht miteinander können. Sie stellen sich der Grausamkeit, die ihnen widerfahren ist, nicht entgegen und finden daher auch keine Sprache dafür. Trotzdem gibt es immer wieder Momente des Zusammenhalts. Zum Beispiel als die Großmutter stirbt. Diese Inseln der Hoffnung gibt es über alle Generationen hinweg. Außerdem gibt es noch die Zimmernachbarin meiner Hauptfigur in der Psychiatrie. Diese Figur steht für die Freiheit. Die beiden haben einen starken Zusammenhalt und widersetzen sich allen Regeln und Kategorisierungen: Was ist schön, was ist hässlich, was ist normal?

Ganz aus dem patriarchalen Muster auszubrechen gelingt ihnen aber trotzdem nicht. Oder warum schwärmen beide für den Oberarzt?

Das stimmt. Ich wollte auch hier ein realistisches Bild zeichnen. Der Oberarzt steht für das patriarchale System und auch für das Denken der Großmutter, der Hierarchien und Erfolg extrem wichtig sind. Die beiden Mädchen überbieten sich ja auch darin, wer die Kränkste ist. Wir alle haben die Regeln unserer Gesellschaft verinnerlicht – sei es patriarchales Denken oder allgemeines Leistungsstreben.

Was unterscheidet die Protagonistin von den anderen Frauen ihrer Familie?

Sie will sich nicht mehr fügen. Sie erkennt die patriarchalen Strukturen, die sie in sich trägt, und will sie überwinden. Die anderen richten sich ein, sie kämpft. Sie will ihren eigenen Weg finden, und das ist wirkliche Befreiung. Man könnte auch sagen: Sie will die Gesellschaft schaffen, in der sie leben will.

Sollten wir das alle tun, Ihrer Meinung nach?

Ja. Wirkliche Authentizität kann nur über Bewusstsein und Auseinandersetzung erfolgen. Klar – und da sind wir wieder bei den Strukturen – hat nicht jede oder jeder die gleichen Voraussetzungen dafür. Trotzdem glaube ich, dass jede und jeder die Verantwortung hat, es in dem Rahmen, der ihr oder ihm möglich ist, zu versuchen.

Sie sind Schauspielerin, Sie arbeiten als Künstlerin und jetzt treten Sie auch noch als Autorin hervor. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Als Teenager habe ich alles drei gemacht: Zeichnen, Schrei­ben und auch Schauspielerei. Es half mir, aus der Enge der Vorstadt auszubrechen. Später, als Schauspielerin, habe ich irgendwann die Möglichkeit vermisst, mich meinen eigenen Fragen und Themen zu widmen. Das war dann der Auslöser für meine bildnerischen Arbeiten. Darin nähere ich mich dem Thema patriarchale Macht über die Figur des Papstes: Ich habe Tausende kleine Päpste mit dem Kugelschreiber gezeichnet, irgendwann auch Päpstinnen. Ich nutze sie, um klassische Männer- und Frauenrollen durchzuspielen und zu untersuchen, wie Frauen mit dem patriarchalen System verflochten sind. Das war die Vorarbeit zu meinem Buch. In ihm greife ich, wie in meinen künstlerischen Arbeiten auch, Aspekte meiner eigenen Familiengeschichte auf. Aber natürlich ist auch sehr viel Fiktion dabei.

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