Schamanismus in Russland: Auf nach Straßburg
Ein „Magier“ will nach Moskau laufen, um Putin zu stürzen. Er landet in der Psychatrie. Jetzt klagt er vor dem Europäischen Menschengerichtshof.
Die Einweisung sei gegen das Gesetz und seinen Willen erfolgt, meinte eine Anwältin. Die Gesundheitsbehörde hätte keine klaren Gründe für die Festnahme nennen können und habe überdies wegen Corona-Sicherheitsauflagen auch einen Besuch in der Anstalt verboten. Selbst telefonisch sei der Schamane nicht zu erreichen gewesen.
Alexander Gabyschew, der selbsternannte „Krieger-Schamane“, spukt schon seit mehr als einem Jahr in den Weiten Sibiriens herum. Damals brach er mit einem Aluminiumanhänger für seine Habseligkeiten im sibirischen Winter in Jakutsk auf und wollte im Sommer 2020 Moskau erreichen. Ziel war es, Präsident Wladimir Putin aus dem Kreml zu vertreiben. Putin sei ein Dämon, kein Mensch, behauptete er damals. Gott habe ihm aufgetragen, den bösen Geist zu verjagen.
Vergangenes Jahr legte der Schamane zu Fuß 2.000 Kilometer bis in die Republik Burjatien zurück. In der Hauptstadt Tschita versammelten sich Hunderte Demonstranten nach einer vermeintlich gefälschten Bürgermeisterwahl um den Jakuten. „Russland ohne Putin!“ skandierten sie.
Kein Schutz vor Verfolgung
Unterwegs hatte der Schamane seine Weltsicht von einer „Volksmacht“, die auf Natur und Gott beruhe, ausführlich in Interviews verbreiten können. Nach wenigen Wochen avancierte er bereits zu einer Youtube-Größe.
Das schützte ihn jedoch nicht vor Verfolgung. Im September wurde er zurück nach Jakutien verfrachtet und das erste Mal in eine Anstalt eingewiesen. Unabhängige Gutachter bestätigten ihm jedoch volle Zurechnungsfähigkeit und er kam wieder frei.
Russland ist eine zutiefst abergläubische Gesellschaft. Wer könne garantieren, dass die Kräfte des sibirischen Zauberers nicht doch eines Tages ihre Magie entfalteten?, schmunzeln Beobachter. Gleichwohl sind Verschwörungstheoretiker und Anhänger des Übersinnlichen auch in den herrschenden Zirkeln anzutreffen.
Der erneuten Festnahme war wieder ein hellseherisches Video vorausgegangen. Gabyschew absolvierte einen traditionellen Tanz und versprach den Anhängern: „Leute, in zwei Monaten werdet ihr die Welt nicht mehr wiedererkennen, auch Russland nicht. Sehr bald schon werdet ihr in die Freiheit aufbrechen“, orakelte Alexander.
Alles hinwegfegen
Niemand könne die Macht des Volkes noch länger unterdrücken. Noch zwei Monate und sie werde alles hinwegfegen, meinte er. „Nimm es als meine Vorhersage, meine Prophezeiung“. Jeder Einzelne müsse jedoch für sein Schicksal selbst Sorge tragen und die „Freiheit mit den eigenen Händen ergreifen“.
Klare Worte, die ein Eingreifen der Staatsmacht wieder erforderlich machten. Offensichtlich ist auch Hartnäckigkeit ein unverzichtbarer Wesenszug eines glaubwürdigen Schamanen. Mehrfach hatte Gabyschew nach den Festnahmen angekündigt, den Marsch auf Moskau fortzusetzen.
Im vergangenen Dezember bei rekordverdächtigen Minusgraden machte er sich wieder mit zwei Begleitern auf die Wanderschaft, wurde aber nach zwei Tagen von der Polizei aufgehalten und zur Rückkehr gezwungen.
Das Handwerk des „weißen Magiers“ erlernte Gabyschew nach dem frühen Tod seiner Frau. Er zog sich in den Wald zurück, an der Trauer sei er damals fast zerbrochen, sagte er.
Historiker und Schweißer
Drei Jahre Einöde hätten ihn zum Schamanen gemacht. Heute besäße er Kräfte, mit denen er alles Negative vertreiben könne. Von Beruf ist er Historiker, gearbeitet hat er die meiste Zeit jedoch als Schweißer.
„Die Herrschenden nehmen die schamanische Welt als Bedrohung wahr, weil sie selbst an Zauberer und Wahrsager glauben“, meint der Dichter Lew Rubinstein. Russlands Herrscher seien selbst „heidnische Schamanen“, die vor dem Geisterbeschwörer Angst hätten. Womöglich seien dessen Kontakte in die Welt der Geister effektiver.
Selbst wenn es zu einer Vertreibung Putins kommen sollte, versicherte der Magier dem Präsidenten: „Niemand wird Sie anfassen, ein Haar krümmen oder Blut vergießen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja