Schadstoffe im Abwasser: Wie viele Pillen verträgt ein Fluss?
Chemikalien aus Industrie und Pharmazie verschmutzen die Wasserreserven – die ohnehin belastet sind. Die EU arbeitet an einer neuen Richtlinie.
Für kleine gesundheitliche Leiden sind rezeptfreie Medikamente praktisch. Wer vorübergehend Kopf- oder Regelschmerzen, einen grippalen Infekt oder einen steifen Nacken hat, wirft sich eine Ibu ein oder schmiert Voltaren auf die betroffene Stelle. Ob die Mittel sinnvoll sind und tatsächlich die Wirkung entfalten, die sie sollen, sei dahingestellt.
In der Umwelt wirken sie auf jeden Fall: Ibuprofen und der Voltaren-Wirkstoff Diclofenac zum Beispiel belasten Gewässer und schädigen Wasserorganismen wie Algen und Fische. Dabei ist der Wasserkreislauf weltweit ohnehin unter Druck, beispielsweise durch zunehmende Extremwetterereignisse.
Und die beiden Schmerzmittelwirkstoffe sind nur 2 von rund 1.300 Humanarzneimittelsubstanzen, denen das Umweltbundesamt eine „mögliche Umweltrelevanz“ zuspricht. Genauso problematisch für die Umwelt können Antibiotika, Antidepressiva und hormonwirksame Arzneimittel wie die Pille werden.
Das Problem dieser „Spurenstoffe“, die über das Abwasser in Flüsse, Seen und schließlich in das Grundwasser gelangen, ist lange bekannt. Den großen gesetzlichen Rahmen, um Gewässer in der EU zu überwachen und zu schützen, bildet die Wasserrahmenrichtlinie WRR.
Pharma-, Kosmetik- und Chemieindustrie
Die EU überarbeitet die WWR seit Jahren und will das entsprechende Trilogverfahren – in dem Kommission, der Rat der Mitgliedsländer und Parlament miteinander verhandeln – dazu am Dienstag abschließen. Ergebnis wäre eine neue Grundlage für den Schutz des Süßwassers in Europa vor Verschmutzung durch Chemikalien der Pharma-, aber auch der Kosmetik- und Chemieindustrie. Es geht also nicht nur um Medikamente, sondern auch um Industriechemikalien wie PFAS, Silber oder Pestizide.
Gemäß den Daten, die die Mitgliedstaaten der EU auf Basis der bisherigen Wasserrahmenrichtlichtlinie liefern mussten, waren 2021 nur 29 Prozent der Seen und Flüsse in der EU in einem guten chemischen Zustand, 77 Prozent der sogenannten Grundwasserkörper. Das Ziel, dass schon 2015 alle Gewässer in einem guten Zustand sein sollten, wurde also verfehlt. Auch das neue – ein guter Zustand aller Gewässer bis 2027 – scheint kaum erreichbar.
Im Trilog geht es nun darum, welche Stoffe künftig als in Gewässern schädlich gelten sollen und überwacht werden müssen, mit welchen Methoden diese Stoffe beurteilt werden sollen – und wer dafür zuständig sein soll. Wie immer finden diese Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament in einer Art Black Box statt. Die Erwartungen an die Ergebnisse sind allerdings hoch.
„Es ist gut, dass sich die EU endlich auf neue Regeln zum Gewässerschutz zubewegt“, sagt ein Sprecher des Verbands der Kommunalen Unternehmen, VKU. „Unsere Wasserressourcen sind durch den Klimawandel schon stark unter Druck.“ Wichtig seien klare und wirksame Vorgaben. Diese dürften aber nicht allein zu kosten- und energieintensiven Nachrüstungen bei Kläranlagen führen, so der VKU-Sprecher.
Genau das droht, weil sich mögliche erweiterte Listen gefährlicher Stoffe plus enger gefasster Konzentrationswerte der Wasserrahmenrichtlinie auf eine andere, erst vergangenes Jahr beschlossene EU-Gesetzgebung auswirken: die Kommunale Abwasserrichtlinie. Sie könnte dazu führen, dass bei neuen und strengeren Konzentrationswerten für Ibuprofen oder Diclofenac die Kommunen ihre Kläranlagen aufrüsten müssten. Geschätzte Kosten nächsten 20 Jahren: zwischen 10 und 20 Milliarden Euro.
Kommunale Abwasserrichtlinie lässt Hersteller zalen
Die Kommunale Abwasserrichtlinie überträgt diese Kosten zum Teil den Herstellern. Sieben Unternehmen sowie der Verband Pharma Deutschland klagen deswegen bereits. „Wir sehen in der Richtlinie Verstöße gegen EU-Recht und eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort und die Versorgung mit Human-Arzneimitteln in Deutschland und Europa“, begründet Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland. Ein Urteil wird noch in diesem Jahr erwartet.
„Die Wasserwirtschaft setzt bei der Umsetzung des Verursacherprinzips auch auf eine Lenkungswirkung“, sagt Stefan Bröker, Sprecher der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall. „Wenn die Industrie mit den Kosten konfrontiert wird, die sie verursacht, hat sie auch wirtschaftliche Anreize, Umweltaspekte beim Produktdesign zu berücksichtigen.“
So wird Diclofenac zu großen Teilen verstoffwechselt, wenn es als Tablette eingenommen wird. Problematisch wird es, wenn es als Salbe auf der Haut aufgetragen ist: Von dort kann der Wirkstoff beim Duschen oder Händewaschen abgespült werden und landet erst im Abwasser und dann im See.
Auch Jutta Paulus, die für die Grünen im EU-Parlament sitzt, setzt auf die erweiterte Herstellerverantwortung für die Abwasserentsorgung und ein breiteres Monitoring. So müssten nicht nur PFAS auf die Liste der Stoffe gesetzt werden, sondern auch deren Zerfallsprodukt TFA, weil das besonders gewässerschädlich sei. Das Hauptproblem der WRR sei allerdings nicht der Gesetzestext, der jetzt verhandelt werde, sondern dass die bislang schon vorhandenen Regeln nur unzureichend umgesetzt würden.
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