Sawsan Chebli über Hass im Netz: „Kein Tag ohne Hetze gegen mich“
Sawsan Chebli schreibt in „Laut“ über Gewalt im Internet. Ein Gespräch über ihre Zweifel, warum sie laut geworden ist, und was ihr Mut macht.
taz: Frau Chebli, wurden Sie heute schon mit Hass im Netz konfrontiert?
Sawsan Chebli: Inzwischen vergeht kein Tag ohne Hetze gegen mich, unabhängig davon, ob ich mich äußere oder nicht. Heute habe ich einige Tweets abgesetzt. So wie immer gab es auch unter diesen Tweets etliche Beleidigungen. Aber auch in meiner Mailbox gab es etliche diffamierende Nachrichten.
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Shitstorm?
Ja. Ich hatte über einen Vorfall auf Facebook berichtet, in dem es um eine sexistische Äußerung mir gegenüber ging. In den Kommentaren mischten sich eine Kombination aus Rassismus, Sexismus und Klassismus. Was mich am meisten erschüttert hat, war der Vorwurf, ich würde das nur schreiben, weil ich mich wichtig machen wolle. Es gab diese ganzen Kommentare wie: „Es werden Frauen vergewaltigt, und du beschwerst dich über ein Kompliment.“ Ich habe mich tatsächlich gefragt, ob es nicht zu harmlos war, um darüber zu berichten. Bis sich Frauen solidarisch gezeigt haben. Im Endeffekt waren meine Zweifel an der Richtigkeit darüber, ob ich hätte doch lieber schweigen sollen, nicht angebracht: Sexismus beginnt nicht mit einer Vergewaltigung.
Lesung „Freie Wahl? Sexismus gegen Politikerinnen in den sozialen Medien“ mit Sawsan Chebli und einem Vortrag von Hate Aid: Fr, 32. 6., 14.30 Uhr, Bremen, Zentralstelle der Landesfrauenbeauftragten (ZGF).
Warum ist Hate Speech echte Gewalt?
Hate Speech sind Kommentare, die abwerten und diffamieren, Menschen gegeneinander aufhetzen sollen, es geht von Beleidigungen bis hin zu Gewaltandrohungen. Die Posts können rassistisch, sexistisch, antisemitisch oder homophob sein. Das Heftige ist, dass Hate Speech wie physische Gewalt auf Menschen wirkt und sie am Ende dazu bringen kann, sich zurückzuziehen und nicht mehr sichtbar sein zu wollen. Es ist wie Gift, das der Seele schadet. Ich kenne etliche, die sich mit dem Thema beruflich befasst haben oder auch selber betroffen sind und psychisch deshalb heute angeschlagen sind und aufgegeben haben. Deswegen appelliere ich auch an die Zivilgesellschaft, laut zu sein.
Was ist für Sie der beste Weg, um laut zu werden?
Zivilcourage zeigen – im Echten wie im Digitalen. Wenn wir einen Menschen sehen, der auf der Straße zusammengeschlagen wird, müssen wir die Polizei rufen. Sonst machen wir uns mindestens strafbar wegen unterlassener Hilfeleistung. Im Netz beobachten viele von uns jeden Tag, wie Menschen brutal zusammengeschlagen werden und schreiten nicht ein. Mit laut meine ich: Einfach nicht still sein! Ich erwarte nicht, dass jede und jeder ein Held oder eine Heldin ist. Wir müssen uns nicht in jede Schlacht begeben. Aber ich erwarte, dass wir alle unser Verhalten im Netz kritisch reflektieren und aufhören, dieses Thema wie ein Nischenthema zu behandeln, das uns nichts angeht.
Warum geht es uns alle etwas an?
Im Kern geht es um unsere Art des Zusammenlebens. Teilhabe ist ein Instrument der Demokratie, aber wenn Menschen nicht mehr teilhaben, gefährden wir unsere Demokratie. Die Angriffe auf Einzelne sind oft systematisch. Die Leute, die mich angreifen, greifen die Werte an, für die ich stehe.
Woher nehmen Sie ihre Motivation, laut zu sein?
Das hat ganz viel mit meiner Biografie zu tun. Ich war fünf, als ich meinen Vater in der Abschiebehaft besucht habe. Ich habe erlebt, wie es ist, keine Stimme zu haben und Schikanen eines politischen Systems ausgesetzt zu sein. In der Schule habe ich dann gemerkt, dass ich in dieser Welt doch eine Stimme habe. Ich war laut, wenn ich das Gefühl hatte, irgendwem in meiner Klasse passiert Unrecht. Ich habe mich dann quasi als Anwältin vor sie gestellt. Das hat sich weiter durch mein Leben gezogen.
Warum ist ein Rückzug aus den sozialen Medien für Sie keine Option?
Mehr als die Hälfte der gesamten Menschheit, das sind über vier Milliarden Menschen, tauscht sich im Schnitt zweieinhalb Stunden täglich über soziale Medien aus. Das zeigt: Die Zukunft unserer Demokratie – ob wir es wollen oder nicht – wird im Internet verhandelt. Politische Entscheidungen werden jetzt schon häufig auf dem Hintergrund von Debatten im Netz getroffen. Soziale Medien haben enorme Wirkungsmacht: Im Iran gehen jeden Tag Menschen auf die Straße. Wir wüssten nichts von diesen Menschen und könnten sie nicht unterstützen, gäbe es soziale Medien nicht.
Was sagen Sie Menschen, die nichts mit den sozialen Medien zu tun haben wollen?
Ich finde diese Position sehr bequem. Wenn Menschen zum Rückzug aufrufen, dann sage ich nur: Schön, ihr habt das Privileg, dass euch Menschen lesen und hören. Viele Menschen würden verschwinden, gäbe es soziale Medien nicht. Es war noch nie so leicht für marginalisierte Menschen, am Diskurs teilzunehmen und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.
Fühlen Sie sich durch das Recht ausreichend vor Gewalt im Netz geschützt?
Nein. Die Bundesregierung hat aber verstanden, dass sie mehr tun muss. Wir sind auch kein Schlusslicht und haben mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz sehr gute und starke Werkzeuge zur Regulierung von sozialen Plattformen und zur Löschung des Hasses. Aber wir sind in der Umsetzung nicht so gut. Ich verliere die meisten Prozesse, weil mir das Gericht oft sagt, der Täter oder die Täterin sind nicht auffindbar, was ja jetzt zum Glück erleichtert werden soll. Aber auch Expert*innen sagen: Die Opfer haben keine Lobby.
44, ist Politikerin (SPD), Aktivistin und Autorin. Zuletzt war sie Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement in Berlin. Ihr Buch „Laut“ ist im März bei Goldmann erschienen (240 S., 18 Euro; E-Book 14,99 Euro).
Wie können Sie sich Ihre Zuversicht bewahren?
Ich habe heute eine Nachricht bekommen, die exemplarisch dafür steht, warum ich laut bleibe. Warum ich am Ende des Tages schaffe, dass dieser Hass mich nicht erdrückt. Da hat jemand geschrieben: „Ich habe gerade den Podcast ‚Ehrlich jetzt‘ mit Ihnen gehört, da standen mir direkt die Tränen in den Augen. Mein Vater wurde als Gastarbeiter geholt, aber behandelt wurden wir nicht als Gast. Ich lebe hier im Osten, und ich fühle eine gewisse Distanz einiger Menschen zu mir und meinen Nächsten. Vielen Dank für Ihre Arbeit.“ Wenn mich Leute fragen: „Was kann ich tun, damit ich Sie unterstützen kann?“, sage ich: Sei bitte laut solidarisch. Es ist für uns alle wichtig – als Demokrat*innen.
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