Samstagabend im Schanzenviertel: Die vielen
Was bringt die Menschen dazu, sich massenhaft gedrängt vor Kiosken zum Trinken zu versammeln? Ich würde es gerne verstehen.
A m späteren Samstagabend lief ich vom Schlump durch die Sternschanze Richtung Altona nach Hause, da fiel mir Folgendes auf: Am Schlump gab es einige Kneipen oder Restaurants, die, obschon noch offen, vollkommen leer waren. „Die armen Gastwirte“, sagte ich zu meinem Begleiter. „Schwere Zeiten“, seufzte er.
Aber schon ungefähr hundert Meter weiter bot sich ein anderes Bild. Jeder noch so schmuddelige, neonhelle Imbiss war bis zum Bersten gefüllt. Auf den Bürgersteigen war kein Durchkommen, es sei denn, man ging direkt auf der Straße. Und das ist ja eigentlich nichts, worüber ich mich wundern sollte, weil es ja nun schon länger ein Thema ist.
Aber es wundert mich trotzdem, es ist einfach so schwer zu verstehen. Wenn es hundert Meter weiter also diese Möglichkeiten gibt, etwas weniger gedrängt zu stehen und zu essen und zu trinken, warum tun sie es nicht? Warum gefällt es ihnen, in einer derartigen Enge und Lautstärke mit derart vielen Menschen gleichzeitig auf der Straße herumzustehen?
Und so ist ja auch die Stadt aufgeteilt in diese Punkte, an denen sich alles konzentriert, und gerade an den Rändern dieser Konzentration, an diesen Abbruchkanten, scheint es extra leer und ruhig zu sein. Denn wenn ein solcher, nach dem Rudel sich sehnender Mensch an diesen Kanten angelangt ist, sieht er das Erstrebte schon in unmittelbarer Nähe und keinen Grund, sich ausgerechnet kurz davor niederzulassen. „Da vorne sind sie alle, die vielen, nach denen es mich sehnt. In ihrer Mitte will ich sein, in ihrem Meer untergehen, ganz in ihre Größe eintauchen, darin aufgehen.“
ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Sicherheitszone“ erscheint am 18. August bei Rowohlt Berlin.
So hingeschrieben finde ich diesen Auflösungsprozess ganz hübsch, mein Verstand kann es irgendwie erfassen, aber ein Gefühl dafür kann ich nicht entwickeln. Manche erklären es mit einem Altersabschnitt. In der Jugend muss es naturgemäß erstrebenswert sein, aufgrund des erwachenden Geschlechtstriebs, man muss ja irgendwo andocken, wenn man aus der Familie ausbricht, eine neue Gemeinschaft sich suchen oder sich gründen.
Aber in meiner Jugend hatte ich bereits eine Abneigung gegen größere Menschengruppen, aus dem Grund, dass ja viele Menschen sehr unangenehm sind. Sie reden dummes Zeug, in einer unangemessenen Lautstärke, inszenieren sich unangenehm, haben eine unerträgliche Mimik und Körpersprache, und das alles verleidet mir die Nähe solcher Menschen, die immer wieder und überall in größeren Gruppen auftauchen, weil sie nun mal einen Anteil unserer Gesellschaft ausmachen.
Auch ich brauche Menschen und sehne mich nach Gesellschaft, aber ich wähle sie mir, wenn möglich, aus. In der selbst gewählten Gesellschaft ist der Anteil der mir Unerträglichen geringer. Meine Freunde sind mir meistens ganz angenehm und ich ihnen, hoffe ich. Aber es ist vielleicht ein Fehler, von sich selbst solche Überlegungen auf andere auszuweiten. Vielleicht stören sich andere Menschen gar nicht so sehr an anderen Menschen, und vielleicht hat dieses Virus jetzt eben mit den einhergehenden gesellschaftlichen Beschränkungen ein Vakuum geschaffen, das eine übergroße Bedürftigkeit nach dicht gedrängten Menschenansammlungen erschuf?
Vielleicht hat die gesamtgesellschaftliche Angst vor dem Virus, vor dem Tod!, das Bedürfnis nach einer grotesken, alles verachtenden, wahnsinnigen Party geschürt? Der Tanz auf den Gräbern, so was in der Art?
Ich versuche ja nur, es irgendwie zu verstehen. Es sind nicht nur Jugendliche dabei, es sind ja auch Dreißigjährige, Vierzigjährige unter ihnen. Es ist mir fremd und ich will es verstehen. Erzeugt alles, was wir tun, egal, in welche Richtung es geht, automatisch eine ähnlich starke Bewegung in die Gegenrichtung? Ist der Mensch so wenig Herr über sich, dass all seine Handlungen wenig mehr als nur ein Kratzen sind, wenn es ihn juckt? Ich lese gerade Balzac, und der hat eine Menge über solche Dinge zu sagen.
Die Hamburger Gesundheitsbehörde möchte jetzt ein Außer-Haus-Verkaufsverbot von Alkohol an diesen Ballungsorten möglich machen. Gut, aber wäre das mehr, als ein Kratzen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund