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Salzburger FestspieleIn der Familienfalle

Der Roman „Die Wut, die bleibt“ kommt auf die Bühne – mit Reflexionen über das Geschlechterverhältnis während der Pandemie und plakativen Botschaften.

Johanna Bantzer (Helene), durch den Lockdown und mit den Kindern isoliert überlastet Foto: Kerstin Schomburg/Salzburger Festspiele

Der Prolog: Johanna Bantzer rezitiert hymnische Sätze über Emotionen beim Mutterwerden, über taktile Wahrnehmungen des neugeborenen Körpers, eine Art Trance und das „Explodieren“ der Endorphine im Blut. Sie stammen aus „Die Wut, die bleibt“, dem Roman der Salzburger Schriftstellerin Mareike Fallwickl.

Ihre Worte balancieren trittsicher über ideologische Abgründe, rufen starke Bilder hervor, ohne beim Thema Geburt in biologistische oder esoterische Gefilde abzubiegen. Ist wenigstens für einen Moment Autonomie möglich gegen die patriarchale Kolonisierung des weiblichen Reproduktionsvermögens – in der Dyade zweier Menschen, wo noch keine Gesellschaft ist? Die Verhältnisse, sie sind doch nicht so.

Die Schlüsselszene: Bantzer klettert auf ein weißes Gerüst und stürzt sich über die Brüstung in den schwarzen Hintergrund. Katja Haß skizziert mit dieser Konstruktion jene Kleinfamilienzellen und -fallen, in die das Theater die kommenden zwei Stunden hineinschauen wird. Wer da springt, ist Helene, etwa vierzig, Mutter dreier Kinder vom Krabbelalter bis fünfzehn. Ihre beruflichen Perspektiven hat sie zugunsten von Johannes (Max Landgrebe) an den Nagel gehängt.

Im Lockdown mit den Kindern isoliert wächst ihre Mental Load über alle Schranken. Sie tut etwas, das Mütter der Mehrzahl und der Erwartung nach nicht tun: Sie entzieht sich, springt auf eine allerletzte Kränkung hin vom Balkon in die Tiefe. Ein Akt der Verzweiflung, einer letzten Befreiung? Ein Fanal, das den Lebensweg derer, die sie zurücklässt, ändern soll. Liegt vielleicht sogar eine letzte Form von Zuwendung darin?

Wiedergängerin und Spielleiterin

Für die Erinnerung der Trauernden wird Helene wiederkehren, Fragen beantworten, neue Rätsel stellen. Die Bearbeitung des Romanstoffs durch Jorinde Dröse (Regie) und Johanna Vater (Dramaturgie) für die Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Schauspiel Hannover – Premiere ist dort am 10. September – macht die Wiedergängerin regelrecht zur Spielleiterin, zur Taktgeberin ihrer Nachwelt.

Sie erscheint allerdings nicht jedem. Sarah (Anja Herden) etwa, Helenes bester Freundin seit Kindertagen. Sie ist Schriftstellerin, kinderlos, hält sich für emanzipiert und autonom, bemerkt aber, wie sie aus Mitleid für die verwaiste Familie in ein Rollenmuster weiblicher Selbstaufopferung gerät, entdeckt an sich Konditionierungen, die sie längst überwunden glaubt.

Die fünfzehnjährige Lola (Nellie Fischer-Benson) im Ska­ter:in­nen-Outfit der Nullerjahre kommt mit ihrem popkulturellen Lifestyle-Feminismus und seinen bloßen Sprachregelungen nicht weiter. Etwas muss her, das den Bann bricht. Mit ihren Freundinnen betreibt sie Kampfsport, um Ohnmachtsgefühle, den verinnerlichten männlichen Blick auf den eigenen Körper regelrecht wegzuprügeln.

Neue Körpererfahrung drängt zum Tanz, aber es bleibt ein Rätsel der Aufführung, warum die Choreos einer Rebellion gegen popkulturell oktroyierte Weiblichkeitsbilder sich so nahtlos in gängige Videoclip­ästhetik fügen.

Rache à la Tarantino

Dann geschieht doch etwas. Sexuelle Gewalt im Nahfeld lässt die Mädchengang zur Tat schreiten. Sie verprügeln den Vergewaltiger und ritzen ihm, Tarantino lässt grüßen, ein K in die Backe, „Karma is a bitch“. Die imaginierte Gewalt bricht den Bann, der die Täter schützt, manchmal muss sie auch ausgeübt werden.

Jorinde Dröses Inszenierung setzt vor allem auf diese spektakulären Wendungen im Romanstoff. Was dabei immer wieder verloren geht, ist Mareike Fallwickls präzise Beobachtung der politischen Ökonomie der Kleinfamilie in Zeiten des Neoliberalismus. Die Individualisierung aller Lebensrisiken von Kindern bis zur Pflege geht in der Regel zulasten der Frauen. Die Schere zwischen den Geschlechtern droht sich gegen alle Gleichheitspostulate wieder zu öffnen.

Der Salzburger Abend setzt vor allem auf plakative Botschaften. Jede Szene wird zum Manifest mit einer passenden Punchline aus dem Roman. Vorgetragen in einem handwerklich nicht gerade subtilen Jugendtheaterpathos bleiben sie als Gemeinplätze und verbale Posen in der Luft hängen. Ihnen ist die Selbstironie abhandengekommen, in die Mareike Fallwickl sie einbettet, mit der sie ihre Wut kultiviert und Lust an der Attacke schöpft, die kommende Befreiung vorwegdenkt.

Die Wut, die bleibt, verpufft diesmal.

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