Säugling ohne Unterkunft: Streit um Schuldfrage
In Hamburg überließen Behörden eine wohnungslose Familie mit einem Säugling eine Nacht lang ihrem Schicksal. Der Fall ist kein Einzelschicksal.
HAMBURG taz | Das hätte nicht passieren dürfen: Darüber, dass die zuständige „Fachstelle für Wohnungsnotfälle“ in Hamburg-Wandsbek versagt hat, als sie in der vergangenen Woche eine Familie mit einem vier Tage alten Säugling ohne Obdach eine Nacht lang ihrem Schicksal überließ, sind sich inzwischen alle einig. Fast alle: Die Sozialbehörde sucht den Fehler lieber bei der Mutter.
Statt zu der Frage Stellung zu beziehen, wer die Verantwortung dafür trägt, dass die Mutter kurz nach der Entbindung mit ihrem Baby ohne Unterkunft bleibt, statt in einem Hotel untergebracht zu werden, wie es in Hamburg in Notfällen üblich ist, lenkt die Sozialbehörde ab.
Ab dem 16. November hätte der Träger für öffentliche Wohnunterkünfte „Fördern und Wohnen“ für die Frau ja einen Platz gehabt. Hätte es das Angebot nicht gegeben, hätte die Frau nach der Geburt ihres Kindes sofort die Möglichkeit gehabt, auf Staatskosten in einem Hamburger Hotel zu wohnen, so die Sozialbehörde. Das habe sie offenbar abgelehnt.
Das Bezirksamt widerspricht dieser Darstellung. Dass die Frau ein Angebot ausgeschlagen hätte, sei nicht bekannt. „Es hat ein Missverständnis gegeben“, sagt der Sprecher David Lause. „Wir sind davon ausgegangen, dass die Dame eine Unterkunft hat. Hätten wir gewusst, dass das nicht der Fall war, hätte wir für eine Hotelunterbringung gesorgt.“ Der Platz in der öffentlichen Unterbringung sei aber erst am darauf folgenden Tag frei geworden. Der Bezirk bedauere es sehr, dass die Mutter in der Nacht keine adäquate Unterkunft hatte.
Die Fachstelle des Bezirks hätte genug Zeit gehabt, sich um eine Unterbringung für die Familie zu kümmern. Bereits im September wurde die damals schwangere Frau vorstellig, als sich ihre Wohnungslosigkeit abzeichnete. Wie das Straßenmagazin Hinz und Kunzt berichtete, musste sie aus ihrer Wohnung ausziehen, weil der Hauptmieter gestorben war. Doch die Fachstelle habe die Frau immer wieder vertröstet. Und auch der Sozialarbeiter bei der Tagesaufenthaltsstätte der Diakonie, bei dem die Familie Hilfe suchte, kann trotz ernster Bemühungen bei der Fachstelle nichts erreichen. Ihm wird mitgeteilt, dass es weder freie Wohnungen noch Plätze in der Notunterkunft gebe.
In Hamburg lebten 2009 rund 1.029 Menschen auf der Straße. Sozialverbände schätzen, dass es inzwischen 1.500 Menschen sind.
Die Zahl der öffentlichen Unterbringungen wurde seit 2000 erheblich verringert: Während es 2001 noch 20.543 Plätze gab, waren es 2010 nur noch 7.811. Heute sind es 8.309 Plätze.
2.800 Plätze in öffentlichen Wohnunterkünften werden von wohnungslosen Menschen genutzt.
Im Winternotprogramm hatte die Stadt Anfang November 252 Schlafplätze bereitgestellt, inzwischen musste sie um 60 weitere Plätze aufstocken.
In der Nacht zum 15. November hatten die zuständigen Stellen die erschöpfte Mutter und dem Baby aber ihrem Schicksal überlassen, sie mussten bei einem Bekannten unterkommen. Wie der NDR am Samstag berichtet hatte, war dieser aber zunächst nicht zu Hause und so musste die Familie vier Stunden in der Kälte vor der Haustür warten, bis sie schließlich in die Wohnung kam.
Mit Verweis auf den Sozialdatenschutz halten sich Sozialbehörde und Bezirksamt mit weiteren Auskünften bedeckt. Die Berichtserstattung des NDR erwecke einen Eindruck, der nachweislich falsch ist, heißt es aus der Sozialbehörde. Niemand werde im Winternotprogramm abgewiesen und müsse auf der Straße erfrieren, vor allem keine Familien mit Kindern. Davon, dass das Winternotprogramm für die Familie die falsche Adresse ist, auch weil sie wegen ihrer Lage ein Recht auf eine Unterbringung hat, ist keine Rede.
Im Fall des Säuglings und seiner Mutter offenbart sich jedoch mehr als ein Einzelschicksal. Der Fall zeigt, dass die Obdachlosigkeit in Hamburg weitere Kreise zieht. Immer häufiger werden Familien mit Kindern wohnungslos. Eine Entwicklung, die auch die Notambulanz der Bahnhofsmission seit etwa neun Monaten beobachtet. „Auch wir sind auf die Frage gestoßen, was mit den Familien passiert“, sagt Axel Mangat. Weil die Notunterbringungen nicht auf Familien ausgelegt seien, müssten die Angehörigen getrennt untergebracht werden.
Uwe Martiny, Leiter der Tagesstätte für Wohnungslose bei der die Familie Hilfe suchte, sieht Probleme bei der Zuständigkeit der Stellen. „Wir fühlen uns nicht zuständig für Kinder“, sagt er. In solchen Fällen müssten die sozialen Dienste aktiv werden. Die Tagesstätte richte sich an Menschen ab 16 Jahre.
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