Sängerin Wilhelmine über Identität: „Weil ich authentisch bin“
Die Berliner Sängerin Wilhelmine nennt ihre Musik „Selbsterkundungspop“. In ihrer aktuellen Single „Komm wie du bist“ feiert sie die Vielfalt.
taz: Wilhelmine, sind Sie ein U-Boot?
Wilhelmine: Ich kann tauchen, aber sonst wüsste ich eigentlich nicht.
Ihre Musik kommt scheinbar harmlos daher, sehr eingängig und fröhlich, aber verhandelt dann doch sehr ernste Anliegen. Schmuggeln Sie Themen wie Diskriminierung, Lesbischsein in der Provinz, Identitätssuche oder Alkoholismus in den Mainstream?
Ja, so gesehen bin ich vielleicht tatsächlich ein U-Boot. Man kann zu meiner Musik erst einmal mitgrooven und nur unbewusst zuhören, aber ertappt sich dann vielleicht selber dabei, dass man zuhört – und stößt im Idealfall so auf meine Themen.
Der Mensch: Wilhelmine trägt im bürgerlichen Leben einen herzlich deutschen Allerweltsnachnamen, den sie lieber nicht nennen will. Als sie kurz nach dem Mauerfall geboren wird, leben ihre Eltern in einem besetzten Haus in Kreuzberg. Als Wilhelmine sechs ist, ziehen ihre Eltern mit weiteren Familien aus dem Haus ins Wendland, um gegen das dort geplante Atomendlager zu protestieren. Eine Zeitlang studiert sie BWL, „um mich strukturierter zu fühlen“, und kehrt schließlich nach Berlin zurück.
Die Fußballerin: Zum ersten Mal gegen den Ball tritt Wilhelmine im Görlitzer Park. Im Wendland spielt sie im Verein zusammen mit der späteren Nationaltorhüterin Almuth Schult, kickt schließlich in der Landesauswahl, aber entscheidet sich gegen den Fußball, als es richtig ernst zu werden droht. Der Union-Fan durfte schon in der VIP-Lounge der Alten Försterei singen: „Das war magisch.“
Die Musikerin: Schon mit elf Jahren macht sie Musik und nimmt sich selbst auf mit einem Kinder-Kassettenrekorder. „Dann ging und kam die Musik in meinem Leben in Wellen“, erzählt sie. 2015 erscheint eine erste Single unter ihrem Namen, aber „Bleib stehen“ hat sie mittlerweile aus ihrer musikalischen Biografie gestrichen: „Das war nicht meine Geschichte, mit dem Lied fühle ich mich nicht verbunden.“ 2019 erscheint schließlich ihre erste offizielle Single „Meine Liebe“, die von ihrer Homosexualität erzählt. Im Frühjahr ist ihre erste EP „Komm wie du bist“ mit fünf Songs erschienen, ein Album ist in Arbeit. (tm)
Aber Konzept ist das nicht?
Nein, meine Musik hat nicht diesen Hintergedanken. Aber ich fand es schon spannend, vor allem bei meiner ersten größeren Veröffentlichung, bei diesen ersten fünf Songs, die ja so etwas wie eine Visitenkarte sind, mit einer Leichtigkeit zu spielen, die trotzdem meine Inhalte transportieren, um zu merken, dass ich Popmusik mache, die etwas sagen möchte. Aber es geht in meiner Musik nicht generell fröhlich zu. Es gibt auch genug traurige Lieder, die ich geschrieben habe, die sehr traurig klingen, weil die Moll-Akkorde ihre Arbeit tun.
Die Idee dahinter ist ja, dass man versucht, jemanden mit diesen Themen zu erreichen, der einem sonst vielleicht nicht zuhören würde.
Ja, ich glaube schon, dass ich so mehr Menschen erreiche. Und, wenn es gut läuft, gibt es einen Aha-Moment, in dem man feststellt: Ach so, es geht ja eigentlich um Sucht, es geht um Gewalt, es geht vielleicht sogar um Traumata, die bewältigt wurden. Mir ist schon klar, dass die Gefahr besteht, dass das Thema auch mal überhört wird, aber das Risiko muss ich eingehen. Aber um ehrlich zu sein, denke ich darüber gar nicht so viel nach, in welche äußere Form ich meine Emotionen gieße. In erster Linie muss es sich gut anfühlen für mich.
Auffällig ist aber die große Diskrepanz zwischen Inhalt und Form. Ihre aktuelle Single „Komm wie du bist“ ist eine fröhliche Mitsing-Hymne, in deren Text, der von Diskriminierung erzählt, aber auch eine gehörige Wut mitschwingt.
Ja, total. Das hätte man auch anders, nämlich wütend machen können. Aber man muss sehen, dass zwischen den Erlebnissen, die in solchen Songs geschildert werden, und dem Moment, in dem ich den Song darüber dann schreibe, bisweilen mehrere Jahre liegen.
Auch sehr leicht wirkt „Meine Liebe“, Ihre erste, im vergangenen Jahr erschienene Single, die von Ihrem eigenen Lesbischsein handelt. Warum haben Sie sich gleich im ersten Song, der die Öffentlichkeit erreicht hat, geoutet?
Das war mir wichtig, ich wollte das als ausgesprochen wissen – ein für alle Mal. Ich wollte klarstellen, dass es zu mir gehört, dass ich mit einer Frau zusammen lebe – und dass es kein Thema mehr ist.
Nicht so klar ist die Bedeutung der roten Flagge, die Sie im dazugehörigen Videoclip schwenken.
Ja, da wird in den Kommentaren sehr viel spekuliert. Warum rot? Liebe? Aber das gefällt mir, deshalb möchte ich dazu auch nur so viel sagen: Die Regenbogenfahne stand nie zur Debatte, das wäre mir im Zusammenhang mit diesem Song zu platt gewesen.
In den Kommentaren wird nicht nur das diskutiert, sondern viele schütten auch ihr Herz aus, bedanken sich, dass sie sich nicht mehr allein fühlen. Wie geht es Ihnen damit?
Das berührt mich sehr, da muss ich mich auch manchmal schütteln. Dass ich ein Lied geschrieben habe, das manche dazu veranlasst, sich zu zeigen, wie sie sind. Manche schreiben, dass sie „Meine Liebe“ als Outing-Lied an ihre Eltern geschickt haben – um endlich darüber reden zu können. Ich habe mir natürlich ein paar Sorgen gemacht, dass ich damit homophobe Reaktionen provoziere. Ein wenig findet das auch statt, das kann man in den Kommentaren ebenfalls lesen. Aber das ist eben nicht die Mehrheit. Stattdessen ermutigt das Lied viele Menschen, und das ist wunderschön.
Ängstigt es Sie nicht, dass ein so persönliches Lied bei anderen dermaßen existenzielle Gefühle auslöst?
Ängstigen? Nein, gar nicht. Ich finde das spannend.
Kann Musik Leben retten?
Ja, finde ich schon. Wenn man damit schafft, die eigenen Gedanken in eine gesündere Richtung zu lenken. Wenn ein Lied dabei hilft, etwas zu artikulieren, was man bislang nicht rauslassen konnte. Die Musik kann helfen, etwas auszusprechen, das man bislang nicht aussprechen konnte.
Nun gibt es Menschen, die sagen: Was soll dieses Lied heute denn noch, das mit der Homophobie ist doch nicht so schlimm, es hat sich doch viel getan. Sarah Connor wird Nummer eins in den Charts mit einem Lied über einen schwulen Jungen.
Sicher, man kann sagen, es hat sich viel getan. Aber wenn man die Kommentare zu meinem Lied liest, dann merkt man, dass es trotzdem noch nötig ist. Nicht nur, weil es offensichtlich noch sehr viele Menschen gibt, die eine solche Diskriminierung erleben. Aber auch, weil es auf der anderen Seite Menschen gibt, die immer noch ein Problem damit haben. Homophobie ist immer noch allgegenwärtig. Vor anderthalb Jahren wurde uns eine Flasche hinterhergeworfen, als ich mit meiner Freundin händchenhaltend durch ein Einkaufszentrum gegangen bin. Das ist nicht weg, Homophobie ist real.
Einen anderen Song von ihnen, „Komm wie du bist“, könnte man als Diversitätshymne verstehen.
Ja, das ist lustig, dass das jetzt daraus gemacht wird. Aber der Ursprung ist ein ganz anderer. Ich war bei einer Lesung von Laura Malina Seiler, einer Coachin. Ich bin großer Fan und extra nach Hamburg gereist. Bei dieser Lesung entstand dann eine Coaching-Situation zwischen Seiler und einer Frau aus dem Publikum, die total emotional wurde – ich musste selbst weinen in der Situation, weil es so schockierend war, dass sich diese Frau nie zuvor willkommen gefühlt hat. Das hat mich so berührt, dass ich am nächsten Tag ein Lied daraus gemacht habe. Der Song ist also nicht autobiografisch. Die Diversitätsbotschaft war also keine Absicht, aber als der Song so verstanden wurde, haben wir das Thema aufgenommen für den Video-Clip.
Was auch auffällt, wenn man Ihre Video-Clips und das ganze Image sieht: Es ist sehr auf ein Mainstream-Publikum ausgerichtet.
Ja, wenn man will, kann man sicher sagen, ich mache Mainstream-Pop. Ich würde zwar eher sagen: Selbsterkundungspop. Oder Selbstliebe-Pop. Aber das kann sich jede und jeder aussuchen.
Sie sind auf jeden Fall bei einer großen Plattenfirma.
Ja, und dafür habe ich mich bewusst entschieden. Ich bin auf die Plattenfirma zugegangen. Denn die Musik ist für mich kein Hobby. In meiner Idealvorstellung kann ich gut von der Musik leben, es groß machen und Konzerte spielen, zu denen auch tatsächlich Menschen kommen. Und ich habe mir überlegt, wie ich die meisten Menschen erreichen kann, wie ich eine Bühne bekomme, mir aber trotzdem treu bleiben kann – und deshalb habe ich beim Major angeklopft. Denen habe ich ein Video gezeigt, das ich selbst geschnitten habe, in dem ich mich vorgestellt habe. Und indem ich das gezeigt habe, bevor ich überhaupt meine Lieder vorgespielt habe, habe ich die Rahmenbedingungen gesetzt: Das ist es, was ich bin und was ich mitbringe – und jetzt brauche ich ein Sprachrohr.
Warum hat die Plattenfirma Sie verpflichtet, was denken Sie?
(denkt lange nach) Ich glaube, weil ich authentisch bin. Ich erzähle meine Geschichten, und ich denke, dass sie das interessiert hat. Ich hoffe es jedenfalls.
Noch vor ein paar Jahren hätte eine solche große Plattenfirma Ihnen wahrscheinlich nahelegt, doch lieber zu einem geschlechtsneutralen „Du“ zu singen.
Ja, das kann sein. Ich kann mir auch vorstellen, dass es das heute noch gibt, dass jemand meint, ich sollte, um die Erfolgsaussichten und die Radiotauglichkeit zu erhöhen, statt „mit einer Frau an meiner Hand“ lieber „mit dir an meiner Hand“ singen. Vermutlich habe ich auch diese Freiheit, weil ich von Anfang an mit der imaginären Regenbogenfahne ins Haus gestolpert bin.
Haben Sie trotz dieser Freiheit das Gefühl, dass es noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, sich im Popgeschäft in Deutschland zu seiner Homosexualität zu bekennen?
Fällt Ihnen sonst jemand ein außer Kerstin Ott? Es ist immer noch außergewöhnlich. Auch Bisexualität findet in der Musikindustrie eigentlich nicht statt. Ich glaube, viele haben Angst vor Schubladen. Und gerade für Frauen ist es schwierig, damit ernst genommen zu werden. Lesbischsein wird doch oft nur als eine Phase gesehen, die wieder vorübergeht. Damit wird kokettiert wie von Katy Perry: „I kissed a girl and I liked it.“
Wegen Corona fiel dieses Jahr der CSD als Straßen-Event aus und fand nur im Netz statt …
Ja, das ist sehr schade. Der ist immer ein Highlight. Eigentlich hatte ich auch den Plan, zu mehreren CSDs zu fahren. Ich liebe auch das schwul-lesbische Straßenfest in Schöneberg – das ist jedes Jahr eine besondere Woche, in der ich so viel Diversität sehe wie nie. Ich wäre auch gern bei dem einen oder anderen CSD aufgetreten, das war auch schon in Planung, aber dann halt nächstes Jahr.
Wie wichtig, denken Sie, war bei der Entscheidung der Plattenfima Ihr Lesbischsein? Oder anders gefragt: Besetzt Ihre Plattenfirma mit Ihnen bewusst eine Nische?
Darüber habe ich auch schon oft nachgedacht, und vielleicht hat das mit reingespielt. Unsere Zusammenarbeit hat mir bislang allerdings keinen Grund gegeben, das anzunehmen.
Es gab keine strategischen Überlegungen? Keine Gespräche, wie das Image gestaltet werden soll?
Nein. Auch wenn Sie es nicht glauben: Die lassen mich tatsächlich so sein, wie ich bin. Aber ich gebe gern zu, die Arbeit mit einer Major-Plattenfirma war sehr viel nahbarer, als ich selbst gedacht hätte. Ehrlich gesagt hatte ich auch so etwas erwartet: Hier ist dein Kostüm, hier ist dein Schuhwerk, und jetzt ab zum Interview-Coaching. Aber das gab es alles nicht. Andererseits: Ich wäre auch schon weggerannt, wenn ich nicht die Künstlerin sein dürfte, die ich bin. Ich glaube, da gibt es viele Klischees über Major-Firmen, die nicht mehr stimmen. Ich bin ja nicht nur in einem besetzten Haus aufgewachsen, meine Familie ist Mitte der Neunziger Jahre sogar ins Wendland gezogen, um dort gegen Kernkraft zu protestieren. Wenn ich auf Heimaturlaub ins Wendland fahre, fragen mich heute noch alle: Und, ziehen dich diese Major-Kapitalisten ab? Erzähl doch mal: Wenn ich hier draufklicke und das kaufe, wie viel landet dann bei dir?
Die haben Angst, dass Sie sich verkaufen?
Ja, ganz klar. Auch mein Manager wurde ganz genau unter die Lupe genommen. Mir wurde schon vertraut, dass ich die richtigen Wege gehe. Aber von meinem engsten Umfeld wurde sehr genau hinterfragt, ob ich in die falschen Hände gerate. Sie wollten mich schützen. Und das ist ja auch richtig. Ich habe einige Jahre gebraucht, bis ich meinen Weg gefunden hatte und wusste, dass es die Musik sein sollte. Das ist wohl der Hippie in mir.
Wie haben Sie gemerkt, dass es die Musik sein muss?
Zu der Zeit hatte ich schon einen Verlag, der mir Räume mit Instrumenten zur Verfügung gestellt hat, die ich von 11 bis 22 Uhr nutzen konnte. Mein Geld habe ich damals aber noch mit einem Teilzeitjob bei einer Produktionsfirma verdient. Der Chef wollte, dass ich mehr arbeite. Aber ich habe gemerkt: Nein, ich will eher weniger arbeiten. Ich habe gemerkt, dass ich nicht genug Raum habe, dass ich nicht genug Luft bekomme, dass ich mich in diesem Bürohochhaus am Hackeschen Markt eingesperrt fühle. Ich will lieber Lieder schreiben. Ich will diesen Beruf ergreifen, Musikerin sein.
Klingt ziemlich ernüchternd: Kreativität als 9-to-5-Job.
Für mich nicht. Für mich ist so eine Struktur unheimlich wichtig, weil ich sonst mit meinen Gedanken überall anders bin. Und in den letzten beiden Jahren habe ich so auch 40, 50 Lieder geschrieben. Dass davon erst fünf erschienen sind, liegt daran, dass ich mir Zeit lassen will. Ich will das langsam aufbauen und den Leuten nicht meine ganze Lebensgeschichte, alle meine Themen auf einmal vor die Füße werfen.
Diese Lebensgeschichte beginnt in einem besetzten Haus in Kreuzberg. Können Sie sich noch an diese Zeit erinnern?
Ich war zwar erst sechs, als wir mit einigen anderen Familien aus dem Haus ins Wendland umgezogen sind, aber ich habe sehr viele schöne Erinnerungen an diese Zeit. Das gemeinsame Kochen, die Sommerfeste im Garten. Montags sind wir immer zum Biobäcker gefahren, haben Brote für alle im Haus geholt und ich durfte obendrauf auf dem Hackenporsche sitzen. Im Görli habe ich Fahrradfahren und Fußballspielen gelernt – damals war der Görli lange noch nicht hip.
Klingt ja sehr idyllisch.
Natürlich gab es auch andere Erinnerungen: Leute, die im Treppenhaus lagen, Spritzen auf den Stufen. Aber was ich in diesem lauten, bunten Haus gelernt habe: eine Offenheit für jeden, denn die braucht man, wenn plötzlich irgendjemand in der Küche sitzt, den man nicht kennt, aber ganz selbstverständlich zum Essen bleibt. Das hat mich geprägt, so viele verschiedene Menschen kennenzulernen. So, das ist der Soundso und der verdient sein Geld mit Jonglieren im Zirkus. Die Familie meiner allerersten Kindheitsfreundin machte den Kinderzirkus Cabuwazi neben dem Pünktchenbad in Kreuzberg, das jetzt keine Pünktchen mehr hat, weil die Pünktchen überstrichen wurden. Diese Offenheit habe ich nie hinterfragt damals, und das hat mich geprägt. Ich bin eben losgegangen und habe Fußball gespielt. Ich wollte beatboxen, also habe ich gebeatboxt. Ich skate bis heute, allerdings auf dem Longboard, weil ich mich mit dem Skateboard beim Ollie mal richtig böse hingepackt habe.
Das sind alles sehr männliche Hobbys …
Ich hatte einfach keine Lust auf kleine Puppen. Ich war Mine, hatte kurze Haare und sah aus wie ein Junge, aber niemals hat jemand komisch gefragt: Warum heißt du Mine, du bist doch ein Junge? Es war normal, dass man einfach sein konnte, was man war – oder sich das auch einfach ausdenken konnte. Ich konnte die sein, die ich sein wollte. Das ist doch eine gesunde Einstellung, um das Leben anzugehen.
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