Sachsen-Anhalt als Wahlheimat: Es heißt „Machdeburch“, du Vorel
Viele kennen Sachsen-Anhalt nur vom Vorbeifahren auf der A2. Doch wer sich auf das Land einlässt, den erwartet viel Schönes – allen voran Ruhe und Platz.
M agdeburg – das wäre meine größte Enttäuschung.“ Mit diesen Worten meiner damaligen „großen Liebe“ endete vor 20 Jahren meine Studienzeit in Leipzig. Und ebenso besagte „große Liebe“. Denn ich ging doch nach Magdeburg.
Ich kannte die Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts vorher nicht. Nur vom Vorbeifahren auf der A 2, auf dem Trip aus der alten Westheimat nach Berlin. „Wir stehen früher auf“, hatte sich die Landesregierung im Jahr 2005 auf die braun-weißen Grußschilder neben dem Standstreifen gebauchpinselt. „Natürlich stehen sie hier früher auf“, spottete ich damals: „Sie müssen ja pünktlich an ihrem Arbeitsplatz in Niedersachsen ankommen.“
Geradeheraus und offen ist der Sachsen-Anhalter. Sagt, was er denkt, und macht einem bestenfalls ein „J“ oder ein „R“ für ein „G“ vor. Echte Sachsen-Anhalter können, je nachdem in welcher Ecke des Landes sie leben, Sächsisch, Norddeutsch oder Brandenburgerisch. Trifft man auf einen Ureinwohner der Landeshauptstadt, stellt er sofort klar: „Es heißt Machdeburch, du Vorel!“
Wenn man denn einen Ureinwohner trifft. Viele haben sich nach der Wende erst einmal abgewendet (einige kamen später wieder zurück). Außerdem kamen andere in das Land der Frühaufsteher, um so manches Dornröschen wieder wachzuküssen. Leute, die hier Neues aufbauen wollen und in diesem Land immer noch viel Gelegenheit dazu haben.
Viel weite Natur
Wer das Bundesland nicht von West nach Ost durchbraust, sondern von Süd nach Nord abfährt, stellt fest: Zwischen Arendsee und Zeitz tut sich der Sachsen-Anhalter noch schwer. Seit Jahren stoppt der Weiterbau der A 14, weil immer irgendwer klagt. Der Sachsen-Anhalter liebt eben seine weite Natur. Davon hat er nämlich viel, auch wenn er nicht viel davon hat. Schon früh wurde Sachsen-Anhalt Wolfserwartungsland. Lieber wäre man Touristenerwartungsland.
berichtet für die Volksstimme dem Jerichower Land.
Sachsen-Anhalt bietet eine Menge Kultur und Geschichte. Hier steht die Wiege der Reformation, hier machte das Bauhaus Schule und hier liegt die Straße der Romanik. Doch die Landesregierung von Sachsen-Anhalt schafft es immer noch nicht, all dies auch werbewirksam zu vermarkten. Das Ringheiligtum Pömmelte – ein Kultplatz aus dem dritten Jahrtausend vor Christus – ist ähnlich bedeutungsschwer wie Stonehenge. Doch die auf einem Acker bei Schönebeck im Kreis wieder aufgepflanzten Holzpflöcke mit Laufpfaden aus recycelten Glasscherben dazwischen locken bestenfalls den Bundesverband der Fakire zur Jahreshauptversammlung an. Kein Info-Center, kein Souvenirshop.
Das 2018 eröffnete Museum in Machdeburch, in welchem die Hinterlassenschaften von Otto dem Großen zu sehen sind, wurde „Ottonianum“ genannt. Dass das kein Vorel auch nur annähernd korrekt aussprechen kann, interessierte offenbar niemanden in der Tourismusabteilung. Zum Glück hat sich wenigstens eine Botschaft aus Sachsen-Anhalt herumgesprochen: Die Erde ist eine (Himmels-)Scheibe aus Nebra.
Glaubenskrieg gegen den Lieblingsbäcker
Auch ich habe es noch nicht geschafft, alle fünf Unesco-Welterbestätten in Sachsen-Anhalt zu besuchen. Ich war zum Bauhaus-Jubiläumsjahr 2020 nicht in Dessau, habe im Jahr 2017 zum 500. Geburtstag der Reformation nicht ihre Wiegen in Wittenberg und Eisleben besucht, ich wandelte noch nie durch das Dessau-Wörlitzer Gartenreich oder den Naumburger Dom.
Dafür ziehe ich jeden Sonnabend in den Glaubenskrieg gegen meinen Lieblingsbäcker, ob es nun Pfannkuchen heißt oder Berliner oder doch Kräppel.
Mit noch mehr Kraftanstrengung ziehe ich jeden Sonntag die Gewichte der Dorfkirchenuhr in meinem Ort in die Höhe (diesen Job kann man hier noch vom Schwiegervater erben), damit die hiesigen Sachsen-Anhalter auch in Zukunft früh genug aufstehen können. Steht der große Zeiger auf der neun, brülle ich vom Turm hinunter: „Und es heißt ‚viertel vor‘, ihr Vörel, und nicht ‚drei viertel‘! Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Doch sie glauben mir nicht, die Bürger von Möckern.
Hierhin hat es mich verschlagen: in die mit 13.000 Einwohnern viertgrößte Flächengemeinde Deutschlands. Auch so etwas gibt es nur in Sachsen-Anhalt: durch Eingemeindung entstanden in diesem Bundesland gleich acht Verwaltungseinheiten, die es – gemessen an ihrer Quadratmeterzahl – locker mit Metropolen wie Köln, München, Dortmund oder Neustadt am Rübenberge aufnehmen können.
Wer Ruhe und Platz sucht, ist in Sachsen-Anhalt richtig: die Bevölkerungsdichte lag zuletzt bei 107 Einwohnern pro Quadratkilometer. In meiner Wahlheimat kommen statistisch gesehen auf jeden Einwohner 37.591 Quadratmeter. Mit viel Wald, Sand, sowie Mais und Raps für Biogasanlagen, einer Menge Wolfskacke und noch mehr Windrädern. Unendliche Weiten, die viele Menschen nie zuvor gesehen haben.
Und – man soll es nicht glauben – meine wirklich große Liebe habe ich tatsächlich hier gefunden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste