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Sachbuch über Rechtsruck in DeutschlandRegression der Mitte

Warum ist die Rechte in Krisen so erfolgreich? Abstiegsangst, Privilegienverlust – Daniel Mullis hat die Angst der politischen Mitte untersucht.

Untersuchungen bis zum Kneipentresen Foto: Iris van den Broek/picture alliance

Wird rechtes Denken eigentlich salonfähig, weil Rechtsaußen erstarkt? Oder ist es nicht vielleicht umgekehrt? Dass die rechte Einstellung des sogenannten besorgten Bürgers langsam in der Mitte der Gesellschaft ankommt? Und gerade dies die rechtsextremen Parteien stärkt?

Daniel Mullis, Humangeograf am Leibniz-Institut in Frankfurt am Main, stellt die zweite These auf und hat dazu nun ein Sachbuch veröffentlicht: „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten“. Ein – vor allem sprachlich – eher wissenschaftlich gehaltenes Buch. Eine tiefgehende Analyse und Mahnung zugleich, die aber jeder politisch Interessierte lesen sollte.

Mullis ist überzeugt: Es sind regressive Prozesse, die spätestens seit der Finanzkrise 2008 in Deutschlands gesellschaftlicher Mitte ablaufen, und zwar im kompletten politischen Spektrum. Also Prozesse, die das Gegenteil progressiver Bewegung sind, die den Abbau sozialer und demokratischer Teilhabe befördern. Dies öffne die Tür nach rechts außen. Um das herauszuarbeiten, startete Mullis 2017 ein umfangreiches Projekt: Über mehrere Jahre führte er repräsentative Interviews und versuchte nah an den Menschen herauszufinden, was die sogenannte Mitte wirklich bewegt. Wie sie denkt, lebt und fühlt.

Krisen, Privilegienverlust und Abstiegserfahrungen sowie tiefliegende Ressentiments lassen die Menschen eine heile Welt zurücksehnen, lautet eine Schlussfolgerung. Eine Welt mit klaren Regeln und in der eventuell sogar eine autoritäre Regierung herrscht. Es ist sicherlich kein positives Bild, das Mullis zeichnet: eine „fortschreitende Entzivilisierung“ und ein CDU-Chef, der die AfD durch seine Aussagen und den Kulturkampf, den er führt, bestärke.

Ein Seismograph für den Zustand der Gesellschft

Für Mullis dient das bundespolitische Protestgeschehen als „Seismograph“ für den Zustand der Gesellschaft. In drei Teilen erhält der Leser eine Ausführung, wann, inwieweit und weshalb heute in Deutschland von einer Regression der Mitte gesprochen werden muss.

Ein geschichtlicher Abriss der letzten Jahre analysiert Pandemie, Klimakrise, Krieg, Migration und auch die Frage, wann eine Krise zur Krise wird. Dann fasst Mullis seine Interviews zusammen, um schlussendlich einen tieferen Blick auf Individualisierung und Neoliberalismus zu werfen, die er für die Dynamik der Regression innerhalb der Mitte verantwortlich macht. In diesem Buch steckt viel Arbeit. Hier wird nicht nur eine Meinung vertreten, sondern empirisch analysiert. So sind Mullis und seine Arbeitsgruppe unter anderem auch in Kneipen gegangen.

Der Autor betont explizit, er schreibe dieses Buch „ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Anklage“, es gehe ihm nur darum, gesellschaftliche Dynamiken offenzulegen. Der Grundtenor der Mitte lautet schließlich: Früher war es besser.

Zwischen Adorno und Ehepaar Böhm

Ganz neutral bleibt der Autor nicht. Die Entwicklung, heißt es, sei nicht gut, und er schreibt das Buch in der Hoffnung, dass noch ent­gegen­gewirkt werden kann. Durch mehr soziale Gerechtigkeit, echte Solidarität und Kollektivität, heißt es etwas allgemein.

Daniel Mullis: „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte“: Reclam, Stuttgart 2024, 336 Seiten, 22 Euro

Trotz aller erarbeiteten Nähe zur bürgerlichen Mitte überwiegt im Buch jedoch die trocken-akademische Analyse. Wünscht man sich doch vor allem im zweiten Teil des Buches, das „Im Wohnzimmer“ heißt, die Protagonisten näher kennenzulernen. Mullis springt zwischen philosophisch-soziologischen Theorien und zum Teil schockierenden, aber grundehrlichen Aussagen aus der bürgerlichen Welt. Zwischen Fraser, Horkheimer und Adorno und Ehepaar Böhm in Frankfurt-Riederwald.

Daniel Mullis’ Buch ist sehr aktuell und wichtig. „Demokratien sterben selten in einem großen Knall“, sondern gehen langsam, von Erosionsprozessen in der Mitte aus­gehend, zu Grunde, heißt es bei ihm. Unausweichlich sei diese Entwicklung aber nicht. Es bleibt zu hoffen, dass Mullis’ Arbeit es schafft, dem „rechten Rauschen“ entgegenzuwirken.

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11 Kommentare

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  • "Wie sehr gerade die eigentümliche Individualisierung und Atomisierung der modernen Massengesellschaft notwendig ist, um totalitäre Herrschaft überhaupt zu ermöglichen, kann man am besten durch einen Vergleich des Nazismus mit dem Bolschewismus erhellen, die unter denkbar disparatesten historischen und sozialen Umständen entstanden sind..." [1]

    Ich sag's ja immer: Neoliberalismus gebiert Faschismus.

    [1] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [10 Der Untergang der Klassengesellschaft/Die Massen]

  • Wenigstens wird hier einmal von „gesellschaftlicher Mitte“ gesprochen! Aber was mit „Mitte“ gemeint ist, wird dennoch nicht gesagt.



    Es ist aber ja nicht einerlei, ob von einer Position zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten in der Mitte geredet wird oder von einer Mitte im Sinne einer Nähe etwa zum Einkommensdurchschnitt. Die politische Mitte könnte etwa als im Bereich dessen, was an verfassungskonformer Gesetzgebung möglich ist, definiert werden. Da rutschen bis zu 50% der Leute nach rechts raus (sagt die „Mitte-Studie“).



    Doch auch wenn man sich auf Einkommen oder Vermögen bezieht oder Steueraufkommen etc., bliebe immer noch die Frage, ob die Mitte der Durchschnitt ist oder der Median. Je weiter beide auseinanderliegen, umso größer die gesellschaftliche Ungleichheit. Und je chaotischer der Zusammenhang von Steueraufkommen und Einkommen (wonach bemessen?) oder Vermögen, umso größer die Ungerechtigkeit.



    Das Problem dürfte sein, dass alle diese Mitten ganz unterschiedliche Mitbürger:innen umfassen. FDP und CDU-Wirtschaftsflügel sprechen dazu gerne noch vom Mittelstand, obwohl das eigentlich mittelständische Unternehmen sind, also irgendwo so zwischen 20 und 500 Beschäftigten. Diese gesellschaftliche Mitte besteht dann aus den wohlhabenderen Perzentilen mit Ausnahme der Superreichen und Multimillionäre.



    Jede:r nimmt für sich in Anspruch, Mitte zu sein und glaubt, das würde irgendeine Anspruchsgrundlage sein: Ich bin normal, ich verdiene dies, das oder jenes. Kurz: Mitte ist knallharter Egoismus und Rücksichtslosigkeit!

  • Für mich ist das ganz einfach, die Menschen wollen Politik die funktioniert, die ihr Leben verbessert.



    Da sind Wörter wie links m, Rechts, Mitte, progressiv Voellig egal. Progressiv wird gewählt wenn es gut ist.



    Wenn Menschen aber merken das die aktuelle Politik weder für Gegenwart noch für Zukunft (Rente, Sozialstaat) funktionierende Lösungen hat, werden andere Parteien gewählt. Dann bekommen die eine Chance und dann die nächsten. DAS ist Demokratie!

    • @Notizen aus Taiwan:

      Solange dabei Parteien gewählt werden, die Demokratie und ihre Grundlagen nicht abschaffen wollen, ist das ja auch ok. Sobald Faschisten und Rassisten gewählt werden, hat das mit Demokratie eher weniger zu tun.

  • Je mehr charakterliche Schwäche sich bei den Menschen entwickelt um so mehr werden rechte Ideen gepflegt.



    Ich entdecke bei früher demokratisch gesinnten Menschen diese Entwicklung absolut dramatisch, leider erkennen diese Bürger ihr Dilemma noch nicht.

    • @Tino Winkler:

      Aus Neugier was verstehen sind unter "charakterliche Schwäche" ?

  • In der Psychologie wird Regression auch als Rückkehr zu Kindheitsgefühlen gesehen. Dh. Das Denken und starke Bedürfnisse sind dann die eines von den Betreungspersonen abhängiges Kind. Progression bedeutet da eher individuation und Selbstverantwortung und Verantwortung für andere und die Umwelt. Desidentifikation und Differnzierungsfähigkeit.

  • Nun ja, so lange sich die masse so vehement gegen wissenschaftliches denken wehrt bzw unfähig ist dies zu konsumieren, wie auch der autor hier durchblicken lässt, so lange wird es eben auch nicht in der masse ankommen.



    die aufklärung ist noch lange nicht vorbei und der kampf gegen die reaktionären und lügner auch noch nicht!

    wie man gerade sieht, denn die meisten regierungen vertuschen und lügen immer noch und sehen transparenz und partizipation eher weiter hinten auf ihrer to-do-liste.

    doch all das ist schon längst bekannt. Mullis ist nicht der erste der das sieht. Eigentlich sieht es jeder, der sich auch nur ein bisschen tiefgehend mit wissenschaft und der geschichte der menschheit beschäftigt.

    das die wissenschaft und der soziale frieden durch die herrschaften ignoriert wird ... und sich so alle paar jahre wieder asoziale strukturen ausbilden können ist nicht neu.

    Was man also zusätzlich dazu noch untersuchen muss, ist eben der faktor in dem die wissenschaft und der soziale frieden systematisch missachtet wird und warum die bildung es nicht besser schafft, dem entgegenzuwirken. auch darauf gibt es schon jede menge antworten ...

    und wir sind wieder am anfang ...



    es gibt nichts wichtigeres als ganzheitliche bildung!

  • Anhand (und alleine) von Interviews auf diese These zu kommen, ist allerdings doch ein bisschen gewagt. Kein Zweifel dass es einen Rechtsruck gibt, aber ich bin mir sicher, dass die Gründe dafür noch weitaus vielschichtiger sind, wie man dies durch Interviews herausfinden könnte.

    • @Mopsfidel:

      Inwiefern finden sie diese These denn gewagt ?



      Welche anderen Methoden würden sie denn benutzen um mögliche (andere) Gründe herauszufinden ?

      • @Rabenbote:

        Mopsfidel - anschließe mich -



        “Auch die längste Reise beginnt mit einem Schritt! chinesisches Sprichwu