Ryūsuke Hamaguchis Film „Das Glücksrad“: Zauber und sein Bruder Zufall
Ryūsuke Hamaguchis Episodenfilm „Das Glücksrad“ entführt in andere Welten. Er beleuchtet den Alltag japanischer Frauen.
Kann es einen solchen Zufall geben? Zwei Frauen laufen sich auf den Rolltreppen einer Bahnhofsvorhalle über den Weg. Voller Erstaunen begrüßen sie sich, sie können ihr unvermutetes Wiedersehen kaum fassen. Die eine ist am Tag davor nur deshalb in die Stadt gekommen, um ein Klassentreffen zu besuchen, auf dem sie hoffte, der anderen zu begegnen. Die aber hatte offenbar keine Einladung bekommen, lädt nun aber ihrerseits die Angereiste zu sich nach Hause zum Tee ein.
„Das Glücksrad“. Regie: Ryūsuke Hamaguchi. Mit Kotone Furukawa, Kiyohiko Shibukawa u. a. Japan 2021, 121 Min.
Dort beginnen die beiden Frauen eine seelenvolle Unterhaltung darüber, was sie in den letzten 20 Jahren bereut und gemacht haben – und dann stellt sich heraus, dass sie einander doch nicht kennen. Jede hatte die andere mit einer anderen verwechselt.
Unter Eskapismus im Kino stellt man sich gewöhnlicher Weise etwas anderes vor als die Filme des Japaners Ryūsuke Hamaguchi, in denen kein „Worldbuilding“, keine Fantasy und nichts Action-Ähnliches passiert, aber viel geredet wird. Sein „Drive My Car“ konnte dennoch in diesem Jahr sogar die Oscar-Wähler überzeugen; der Film wurde als bester internationaler Spielfilm ausgezeichnet und erhielt darüber hinaus Nominierungen in den Kategorien Regie, adaptiertes Drehbuch und Bester Film.
Silberner Bär auf der Berlinale
„Das Glücksrad“, der im vergangenen Jahr auf der nur online abgehaltenen Berlinale 2021 Premiere feierte und dort den Silbernen Bären und Großen Preis der Jury erhielt, geriet über den Erfolg von „Drive My Car“, der im selben Jahr in Cannes präsentiert wurde, etwas ins Hintertreffen. Zusammen sorgen beide Filme nun dafür, dass sich der Name Ryūsuke Hamaguchi nachhaltig einprägt – als Regisseur von Filmen, die in andere Welten entführen, nur eben auf sehr spezielle Art und Weise.
Wer von der dreistündigen Laufzeit von „Drive My Car“ abgeschreckt war, tut sich vielleicht sogar leichter mit dem zweistündigen „Glücksrad“, der zudem in drei Episoden aufgeteilt ist. In allen geht es um die seltsame Kraft des Zufalls – und darum, welche Wendungen er tatsächlich ermöglicht.
In der ersten Geschichte entdeckt das Fotomodell Meiko (Kotone Furukawa), dass der aufregende junge Mann, mit dem ihre Assistentin und Freundin Tsugumi (Hyunri) soeben das erste Date hatte, ihr eigener Exfreund ist, der sich zu ihrem Leidwesen ein Jahr zuvor von ihr getrennt hatte.
Die beiden Frauen sitzen nach einem Fotoshooting im Taxi auf dem Weg nach Hause; Meiko fragt Tsugumi über das Potenzial des Mannes aus. Um wen es sich bei dem Innenarchitekten, von dem die Freundin ganz begeistert ist, handelt, begreift Meiko ziemlich schnell.
Der Freund der Freundin
Trotzdem sieht man, wie sie den Zeitpunkt, Tsugumi die Wahrheit zu sagen, gleich schon verpasst. Statt dessen horcht sie sie regelrecht aus: Was sagt er über seine Ex? Wie stellt er sich dar? Was erzählt er über seine Beziehungserfahrung? Und dann, kaum dass Tsugumi ausgestiegen ist, fährt Meiko mit dem Taxi stracks zu ihm, um ihn zur Rede zu stellen.
Man glaubt zu wissen, worauf das hinauslaufen wird: Die Eifersucht, die sich in Meiko regt, liest man als Beweis, dass es mit der Liebe zu Kazuaki (Ayumu Nakajima) eben doch nicht vorbei ist. Genauso ist man gewillt, hinter dessen Ärger über ihr plötzliches Auftauchen in seinem Büro eine lediglich unterdrückte, fortbestehende große Zuneigung wahrzunehmen.
Hamaguchi aber macht aus der Situation noch einmal etwas anderes, Unmittelbares: Man glaubt den beiden Figuren dabei zusehen zu können, wie sie sich im Widerstreit erst mühevoll über die eigenen Gefühle klar werden. Trotzdem ist am Ende der Szene noch alles offen. Erst in der Coda, in der die beiden Freundinnen im Café sitzen, während Kazuaki zufällig draußen vorbeiläuft, wird die Entscheidung herbeigeführt – mitnichten so, wie man gedacht hat.
Der Titel „Das Glücksrad“ weist nicht nur inhaltlich auf Geschichten über Schicksal und Zufall hin, sondern auch formale Aspekte von Hamaguchis Erzählweise. Alle drei Episoden folgen im Grunde dem Aufbau eines Zaubertricks: Zuerst kommt das „Setup“, in dem die Figuren und ihr Grundkonflikt etabliert werden.
Affären und Skandale
In der zweiten Episode ist das die verheiratete Nao (Katsuki Mori), die eine Affäre mit ihrem jüngeren Kommilitonen Sasaki (Shouma Kai) hat, der sie eines Tages darum bittet, ihren Professor Segawa (Kiyohiko Shibukawa) in einen Skandal wegen sexuellen Belästigung, eine „Venusfalle“ sozusagen, zu verwickeln.
Die zweite Stufe, der „Twist“ besteht darin, dass der Professor der verführerischen Studentin dann trotz alledem ganz gut widerstehen kann, sie selbst sich aber Gefühle eingestehen muss, die sie vorher verdrängt hatte. Und im dritten Akt, dem „Reveal“ beziehungsweise der „Enthüllung“ stellt sich dann heraus, dass ein dummes Missgeschick fünf Jahre später alle drei woanders enden lässt, als sie es seinerzeit gedacht hätten.
Dabei steht aber nicht der formelhafte Charakter des Erzählens im Vordergrund des Films, sondern wie kunstvoll Hamaguchi diese Formel unterstreicht und zugleich unterläuft. Einerseits schmückt er die Kurzgeschichten fast übertrieben mit Zufall über Zufall aus – das Japan, in dem der Film spielt, ist ein sehr kleines Land, in dem sich Figuren stets nach Jahren im Bus oder auf der Straße wiederfinden können –, andererseits reduziert er ihre Komplexität, indem er sich ganz auf den jeweiligen Austausch zwischen zwei Figuren konzentriert.
Man darf sich aber auch nichts vormachen: Für die, die frei nach dem berühmten Spruch von Gene Hackmans Figur in Arthur Penns „Die heiße Spur“ („Night Moves“) das Erlebnis eines Éric-Rohmer-Films mit „Farbe beim Trocknen zusehen“ beschreiben würden, entfalten sicher auch Hamaguchis Filme keinen Reiz.
Störrische Charaktere
Wer jedoch den 2010 verstorbenen französischen Regisseur samt seiner in Zyklen wie „Moralische Erzählungen“ oder „Komödien und Sprichwörter“ eingeordneten Filme vermisst, wird sich mit dem „Glücksrad“ regelrecht beschenkt fühlen. Nicht dass Hamaguchi Rohmer bloß nachahmen würde. Vielmehr erinnert seine Art und Weise, den Figuren Zeit und Raum zu lassen, um sich ihrer selbst bewusst zu werden, sehr angenehm an Rohmers spezielle Zuneigung für seine oft störrischen Charaktere.
Und wie viele von Rohmers Werken ist auch Hamaguchis „Glücksrad“ ein Film, der das Sprechen der Figuren weniger dafür benutzt, um Handlung voranzubringen oder Dinge zu erklären, sondern dazu, die Funktion des Redens selbst zu reflektieren.
Es gibt hier wenig witzige Pointen oder geistreiche Erwiderungen, statt dessen fesselt das Prozesshafte der Dialoge, das, was geredet wird, genauso wie das, das man daran unschwer als Verdrängtes erkennt. In allen drei Episoden geben sich die Figuren redlich Mühe, ehrlich zu sein, aber das, was sie sagen, geht, einmal ausgesprochen, seine eigenen Wege.
Den größten emotionalen Nachhall entwickelt dabei zweifellos die letzte Episode, die mit den zwei Schulfreundinnen, die sich so sehr übers zufällige Wiedersehen freuen, dass sie sich ihre Täuschung kaum eingestehen können. Statt auseinanderzugehen und den Zauber des Zufalls zu zerstören, halten sie an ihm fest. Und siehe da, im „Als ob“-Spiel gelingt es ihnen, zu Wahrheiten zu finden, die ihnen alleine verborgen geblieben wären. Für die Kunst des Entführens in andere Welten braucht es eben kein Spezialeffekte, es reicht, dass jemand in eine Rolle schlüpft.
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