Murakami-Verfilmung „Drive My Car“: In den Gleichklang hineinfahren

Der Film „Drive My Car“ ist ein Roadmovie à la Murakami. Ryūsuke Hamaguchi nutzt das Innere eines Wagens virtuos für ein Spiel mit der Suggestion.

Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und Misaki Watari (Tōko Miura) sind in „Drive My Car“ unterwegs Foto: Rapid Eye Movies

Das Genre Roadmovie ist fast so alt wie das Kino selbst, aber wie sich Autofahren wirklich anfühlt, das hat noch niemand so auf die Leinwand gebracht wie Ryūsuke Hamaguchi mit seinem Film „Drive My Car“. Der Titel hält genau das, was er verspricht: Man sitzt im Kino und wird fortgetragen, während jemand anderes am Steuer sitzt. Beiläufiges Starren in die Landschaft mit eingeschlossen.

Der erste Trigger für diesen besonderen Geisteszustand, in den einen das ereignislose Dahinrollen auf den wohlgeteerten Straßen unserer Industrienationen versetzen kann, ist ein roter Saab 900, neben den zwei Haupt­dar­stel­le­r:in­nen der MVP, Most Valuable Player, dieses Films. Farbe und Form des Saab wecken sinnliche Erinnerungen an analoge Zeiten und weisen seinen Besitzer, den Theaterschauspieler und -regisseur Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) als einen Mann aus, der sich gegen neue Konventionen stemmt, indem er starr an alten festhält.

Sein Hang zu alten Techniken ist sogar so groß, dass er nichts, aber auch gar nichts an seinen Routinen ändert, als er eines Abends früher als erwartet nach Hause kommt und sieht, wie seine Frau Oto (Reika Kirishima) mit einem anderen Mann Sex hat. Es ist nicht klar, ob seine Frau ihn bemerkt hat, Kafuku jedenfalls schleicht sich einfach wieder aus dem Haus und übernachtet am Flughafen.

Dass Oto fremdgeht, ist dabei noch das Banalste an diesem Paar, das Hamaguchi in den ersten 40 Minuten seines Films vorstellt, gewissermaßen als Vorspann vor dem eigentlichen Film (dessen Titelsequenz auch erst dann, nach gut 40 Minuten, eingeblendet wird).

„Drive My Car“. Regie: Ryūsuke Hamaguchi. Mit Hidetoshi Nishijima, Tōko Miura u. a. Japan 2021, 179 Min.

So real die Figuren wirken, spürt man in den Details, mit denen ihr Zusammenleben beschrieben wird, doch deutlich die literarische Fiktion durch: Zu aufgeräumt ist ihr schweigendes Pendeln durch die glatt-modernen Räume ihrer Hochhauswohnung und Büros, zu pittoresk das Auflegen von Vinylschallplatten mit klassischer Musik und zu erotisch für ein lang verheiratetes Ehepaar das aktive Liebesleben, aus dessen Orgasmus Dinge geschöpft werden: Sex regt Oto dazu an, Erzählfäden zu spinnen, die sie dann wieder vergisst, weshalb Kafuku sie sich merken muss.

Dialoge lernen beim Fahren im Saab

Überhaupt sind sie ein Paar wie aus einem Filmschülerdrehbuch: Oto arbeitet als Autorin für Fernsehen; Kafuku wird als Schauspieler in Tschechow-Inszenierungen gefeiert. Seine Dialoge lernt er, indem er beim Fahren in seinem Saab eine Tonkassette einlegt, auf der Oto ihm die Zeilen seiner Mitspieler vorliest, mit genau getimten Pausen für seine Rolle.

Sie sind einerseits so gut aufeinander eingestimmt, dass man ihre Liebe für innig halten könnte, andererseits leben sie so reibungsfrei nebeneinander her, dass man die Jahrzehnte zu erahnen meint, die dieses perfekte Vermeidungsspiel hervorgebracht haben. Was wirklich zwischen ihnen passiert ist und noch passiert – das klärt sich erst viel später im Film auf.

Obwohl man schon in diesem Vorspann Kafuku recht oft in seinem Auto sieht, nimmt „Drive My Car“ erst danach richtig Fahrt auf, man verzeihe das Wortspiel. Nach einem tragischen Ereignis vollzieht der Film einen Zeitsprung, der Kafuku an einen anderen Ort und damit auch in eine andere Routine bringt. Als „Artist in Residence“ soll er in Hiroshima in einem Kulturzentrum Tschechows „Onkel Wanja“ inszenieren.

Erstickender Gutwille der Kulturdenkmalsbranche

Der Clou des Projekts ist die Multilingualität: Auf der Bühne stehen japanische mit koreanischen und US-amerikanischen Schauspielern zusammen und sprechen je ihre eigene Sprache. Für die Zu­schaue­r:in­nen wird per projizierter „Untertitel“ übersetzt. Eine der Darsteller:innen, die Kafuku auswählt, spielt ihren Part sogar in Zeichensprache. Hamaguchi gelingt hier das Kunststück, so punktgenau den alles erstickenden Gutwillen der internationalen Kulturdenkmalsbranche darzustellen, dass man die satirischen Untertöne fast überhört.

Es ist eine Ironie, die der von Tschechow sehr, sehr nahekommt. Wie in den Theaterstücken des Russen wendet sich auch in Hamaguchis Film die Ironie nie gegen die Figuren. Ihr alltägliches Tun wird fast auf pathetische Weise ernst genommen, aber nicht unbedingt die Lebenskonstruktionen, die sich daraus ergeben.

Der rote Saab rückt in den Mittelpunkt nicht nur der Küstenlandschaft, die die Kamera in Grauwettertönen einfängt. Aus versicherungstechnischen Gründen lassen die Veranstalter in Hiroshima Kafuku nicht selbst Auto fahren. Er, der sich extra eine Stunde entfernt ein Hotelzimmer gemietet hat, damit er auf den Fahrten in Einsamkeit seinen Text studieren kann, muss sich mit einem Chauffeur abfinden.

Der Chauffeur stellt sich als junge Frau namens Misaki (Tōko Miura) heraus, deren schweigsamer Fahrstil den melancholischen Regisseur aber schnell überzeugt. Nach ein paar Fahrten vertraut er ihr sogar so weit, dass er es ihr überlässt, die Tschechowkassetten mit der Stimme seiner Frau einzulegen.

Sich bei der Trauerarbeit Gesellschaft leisten

Von da an rhythmisieren die Fahrten der beiden den Film. Auf der Plotebene geschieht das Erwartbare: Vertrauen wird gefasst, kleine Zugeständnisse führen zu verhaltenen Lebensbeichten. Der ältere Mann und die noch sehr junge Frau leisten sich Gesellschaft bei der Trauerarbeit um ihre je eigenen Verluste. Nichts Besonderes also.

Die große Faszination dieses Films liegt darin, wie Hamaguchi diesem weitere Schichten von Bedeutung und Suggestion hinzufügt, und das nur durch die Länge von Einstellungen, den Rahmen des Bildausschnitts und ein Tondesign, das aus dem dumpfen Summen im Wageninnern einen untergründig-emotionalen musikalischen Soundtrack macht.

Doch während Kafuku sich mit seiner Chauffeurin in immer mehr Gleichklang hineinfährt, kommen bei seiner Theaterarbeit mehr und mehr Dissonanzen und Irritationen auf. Einen der Störfaktoren hat er sich selbst ausgesucht, indem er für die Rolle von Onkel Wanja den jungen Filmstar Kōji (Masaki Okada) besetzt hat, von dem er glaubt, er sei der Liebhaber seiner Frau gewesen. Aber weiß er es genau?

Ist die Tatsache, dass Kōji eine von Otos Post-Orgasmusgeschichten kennt, ein Geständnis? Kōji selbst ist eine Chaosfigur; wo Kafuku und seine Fahrerin hinter ungerührten Gesichtern ihre Dramen mit sich selbst ausmachen, agiert Kōji alles aus und richtet Zerstörung an, wohin er kommt.

Wunderbar assoziativ ins Filmische übersetzt

„Drive My Car“ beruht auf mehreren Erzählungen von Haruki Murakami, dessen kühl beobachtenden Innerlichkeitston Hamaguchi wunderbar assoziativ ins Filmische übersetzt. Aber Tschechow mit seinen hier so oft und ausführlich repetierten Sätzen verleiht dem Ganzen noch eine weitere Note: In Parallelität zu Wanja und Sonja aus dem Stück bestärken Kafuku und Misaki sich gegenseitig darin, weitermachen zu müssen, auch ohne Hoffnung darauf, dass es besser wird.

Aber wie Wanja und Sonja sind sie in ihrer Selbstverstricktheit auch ignorant gegenüber dem Leiden um sie herum: Dass der Mord, der passiert, während sie tatenlos im Auto warten, etwas mit ihrem Leben zu tun haben könnte, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Ein japanischer Dreistundenfilm, der von einer Theateraufführung handelt, so etwas hakt man schnell mit dem Label „Nicht jedem sein Ding“ ab. Dem zum Trotz erweist sich „Drive My Car“ dieser Tage als everybody’s Lieblingsfilm mit großen Oscar-Chancen. Tatsächlich fühlt man sich als Zuschauer nach Ablauf der 179 Minuten fast frischer als am Anfang, so fesselnd und entspannt zugleich war der Trip.

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