Russischer Sender „TV Doschd“: Die letzten Kremlkritiker

In Russland ist Fernsehen eine Propagandamaschine des Regimes. Eine Ausnahme ist der Sender„TV Doschd“, der dem Druck des Kreml trotzt.

Studio des Fernsehsenders Doschd mit Kamera, Moderator und Moderatorin am Tisch - Monitore der Redaktion im Hintergrund

Seit 2010 gibt es den Sender „TV Doschd“: Hier im Jahr 2012 in seinem Moskauer Studio Foto: Martin Fejer/Est&Ost/imago

MOSKAU taz | Die Abendnachrichten an einem Mittwoch Ende März in Russland: Eiskunstlauf-WM in Stockholm, „positive Dynamik“ von Covid-Erkrankungen im Land, ein Treffen des Präsidenten Wladimir Putin mit dem Gouverneur der Region Nowgorod. 45 Minuten lang sendet der staatliche Erste Kanal seine Beiträge. Zum gleichen Zeitpunkt geht der zweistündige Tagesabschluss von TV Doschd – zu Deutsch: Regen – gerade zu Ende. Die Moderatorin des unabhängigen Nischensenders fragt: „Was ist mit Nawalny? Wann gibt es den nächsten Protest? Worin liegt das Seltsame an Putins Impfung? Und wie wird Kiew auf die Vertreibung der Ukrainer auf der Krim reagieren?“

Zu sehen ist die Sendung im Internet. Mit gewohnten Fernsehformaten haben die „Regentropfen“, wie sich die Jour­na­lis­t*in­nen hier nennen, längst gebrochen, weil sie oft die Themen aufgreifen, die nicht ins Narrativ der offi­ziellen russischen Politik passen.

Seit 2010 macht Doschd das, was andere russische Fernsehsender meiden: Die Jour­na­lis­t*in­nen senden live von Protesten auf der Straße, sie berichten aus Gerichtssälen, wenn Oppositionelle auf der Anklagebank sitzen, sie prangern offen das System Putin an – in einem Staat, der das Fernsehen zur Propagandamaschine umfunktioniert hat und es mit strikten Kontrollen an der kurzen Leine hält. Vor allem in Zeiten des Protests im Land erleben die „Regentropfen“ ihre Sternstunde.

„Wir sind kein Oppositionssender“, sagt Tichon Dsjadko. „Wir sind ein ganz normaler Sender, weil wir viele Stimmen zu Wort kommen lassen, auch die der Opposition.“ Der 33-Jährige hatte vor mehr als zehn Jahren bei Doschd seine ersten Schritte als Fernsehjournalist gemacht, in einer Talksendung mit seinen zwei Brüdern. Seit mehr als einem Jahr ist er Chefredakteur, „weil es einfach toll ist, hier zu arbeiten“.

Eine „oppositionell eingestellte Haltung“ pflegen wohl alle beim Sender, sagt Chef Dsjadko

„Hier“ ist eine ehemalige Kristallglasfabrik im Moskauer Norden, in der der Sender nach seinem Rausschmiss aus dem Moskauer Zentrum 2015 ein Stockwerk gemietet hat, umgeben von Galerien, Läden kleiner Modelabels und Cafés. Dsjadko ist Chef über 170 feste und freie, meist junge Mitarbeiter*innen, die bei Doschd eine Art Journalistenschule durchlaufen.

„Tischa“ nennen ihn hier alle, mit seinem Kurznamen, der ans russische Wort für „ruhig“ erinnert. Es passt zu dem großgewachsenen Moskauer, der vor und hinter der Kamera ernsthaft wirkt. Er ist in einer Men­schen­recht­le­r*in­nen­fa­mi­lie aufgewachsen. „Das Dissidentenmilieu war mein natürlicher Lebensraum.“ Es prägte auch seine Einstellung zur Politik.

Eine „oppositionell eingestellte Haltung“ pflegen wohl alle beim Sender – „weil es uns nicht egal ist, wie es um Wahlen, Korruptionsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit in Russland steht“, sagt er im gläsernen Besprechungsraum des Senders. „Sex“ prangt über der Tür, in Pink, der Farbe des Internetkanals. Tabus soll es hier genauso wenig geben wie etwaige schwarze Listen, auf denen Themen stehen, die nicht angefasst werden sollen.

„The optimistic channel“ nennen sie sich seit ihren Anfängen, obwohl die Nachrichtenlage sie kaum je optimistisch stimmt. „‚The realistic channel‘ wäre wohl passender“, sagen hier viele, doch die Entscheidung für das Motto war zu einem Zeitpunkt gefallen, als Dmitri Medwedjew Präsident wurde und in liberalen Kreisen Russlands eine Tauwetterstimmung herrschte. „Damals sahen viele die Möglichkeit zu Veränderungen unseres Landes. Es herrschte Optimismus“, sagt Dsjadko.

„Eine Art Spielzeug“

Dieser Optimismus hatte auch Natalja Sindejewa gepackt, eine Mathematiklehrerin, die mal italienische Mode verkaufte, mal eine nächtliche Wassershow im berühmten Moskauer Tschaika-Schwimmbad plante und später den Investmentbanker Alexander Winokurow heiratete, den Geldgeber für den Anfang. Doschd sah sie nach ihrem Radioexperiment „Silverrain“ und der Zeitschrift Bolschoi Gorod (Großstadt), beides für die wachsende Mittelschicht im Land, als „eine Art Spielzeug“ an, sagt die 50-Jährige heute. Doch Doschd wurde schnell zu „einem Kind, für das man mit aller Kraft kämpft“, wie sie kürzlich in einem Youtube-Interview beschrieb.

Sindejewa kämpfte. Vor allem 2014, als der Sender zum 70. Jahrestag der Befreiung von Leningrad fragte: „Hätte man Leningrad aufgeben sollen, um Hunderttausende von Leben zu retten?“ Die Umfrage löste einen Shitstorm aus, man warf dem Sender vor, amoralisch zu handeln. Alle großen Kabelanbieter nahmen Doschd in kurzer Zeit aus ihrem Programm, schließlich wurde auch der Mietvertrag auf dem Gelände der einstigen Schokoladenfabrik „Roter Oktober“, nur unweit des Kremls, nicht verlängert. Der Sender verlor mehr als 25 Millionen Zuschauer*innen, er verlor Mitarbeiter*innen, verlor an Bedeutung. Den Mut aber verlor er nie und berappelte sich wieder.

Heute finanziert er sich durch Bezahlabos, Spenden, Werbeeinnahmen und Projektgelder der EU. Seine Bilder von Protesten streamt er auch bei Youtube. Mehr als 2 Millionen Menschen zahlen etwa 5 Euro im Monat und können Diskussionen folgen, Gedichte hören, bald drei Nachrichtenblöcke am Tag schauen und vor allem live bei Demonstrationen „dabei sein“, sei es in Russland, Belarus oder Armenien.

Politischen Druck ist hier jede und jeder gewohnt. Manchmal auch Gewalt. „Meine Emotionen schalte ich aus, wenn ich mitten in einer Demonstrationsmenge stehe, wenn ich von Polizisten herumgeschubst werde. Der Zusammenbruch kommt später, wenn ich realisiere, welcher Gefahr ich mich vielleicht ausgesetzt habe“, sagt Mascha Borsunowa, eine 26-jährige Reporterin. Seit sieben Jahren ist sie für Doschd im Einsatz, erst als Gerichtsreporterin, mittlerweile als Protestbeobachterin. „Nach Tagen und Wochen des Funktionierens rufe ich schon einmal meine Psychotherapeutin an, wenn ich es für nötig halte.“

Die Doschd-Journalist*innen blicken realistisch auf ihr Land. Und träumen von „einem Russland, das nicht mit jedem Streit sucht, einem Russland, das eine unabhängige Justiz hat, das die Rechte eines jeden achtet“, sagt der Chef Dsjadko. Noch aber lebten sie „im Absurden“, wie Mascha Borsunowa es nennt. „Dieses Absurde müssen wir zeigen.“ Sie gehen zu ihren Arbeitsplätzen, düster ist es hier, die Aufnahme läuft.

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