piwik no script img

Russische Propaganda zum Tag des SiegesLieber am 8. Mai gedenken

In der Ukraine wird darüber diskutiert, den Gedenktag vorzuverlegen. Ein richtiges Signal gegen den Putinismus, findet unser Autor.

Denkmalsturz in Cherneve, Ukraine, 27. April: Die Statue erinnerte an den Sieg über Nazi-Deutschland Foto: Pavlo Palamarchuk/reuters

D er 9. Mai sollte als gesetzlicher Feiertag aus dem Kalender gestrichen werden. Niemand will irgendjemandem den Sieg über Nazi-Deutschland nehmen, aber dieses Datum ist Teil der politischen Kultur, die zum Putinismus und zum Angriffskrieg auf die Ukraine geführt hat.

In der Ukraine ist noch nicht entschieden, ob man die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges vom 9. auf den 8. Mai verlegt. Bei uns in der Ukraine ist der 9. Mai der Tag des Sieges über den Nationalsozialismus und der 8. Mai der Tag des Gedenkens und der Versöhnung.

Soziologen haben 2022 festgestellt, dass 80 Prozent der Ukrainer nach der russischen Invasion den 9. Mai als Gedenktag sehen. Es ist ein Relikt der Vergangenheit und gehört einfach zum Alltag. Aber selbst jetzt, mitten im tödlichen Krieg gegen Russland, wird in der Ukraine behauptet, dass eine Verlegung des Feiertags vom 9. auf den 8. Mai „die Gesellschaft spalten“ würde. Das wundert mich nicht.

Meine Landsleute wollten sich lange nicht die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen eingestehen. Dass der Krieg nicht erst im Jahr 1941 mit der Invasion der Nazis in die Sowjetunion angefangen hat, sondern bereits 1939, als Hitler den Zweiten Weltkrieg begonnen hat und Stalin zunächst als Verbündeten hatte. Auch die Demütigungen und Lügen, die die formalen Sieger des Kriegs unter dem kommunistischen sowjetischen Regime nach 1945 erfahren haben, wollte man sich nicht eingestehen.

Es gibt den 8. Mai, den Tag des Siegs der Demokratie über den Nationalsozialismus. An diesem Tag im Jahr 1945 beendeten die Alliierten den Kampf gegen die Nazis. Zu diesen Alliierten zählten auch die heutigen Verbündeten der Ukraine – und die Rote Armee, in deren Reihen auch Millionen Ukrainer kämpften. Die Sowjetunion wollte sich zunächst nicht an diesem Kampf beteiligen – in den ersten Kriegsjahren war Josef Stalin de facto ein Verbündeter Hitlers. In meiner sowjetischen Schule habe ich gelernt, dass die UdSSR gegen Nazi-Deutschland in den Krieg zog, weil Hitler „heimtückisch“ die UdSSR angegriffen habe. „Aha, Stalin hat Hitler vertraut, und Hitler hat dann angegriffen“, schlussfolgerte ich.

Zwangsbündnis für die Demokratie

In diesem Krieg, der auch mit dem Zusammenbruch des Sowjetregimes und Russlands selbst hätte enden können, brauchte Stalin Verbündete. Und natürlich war es den demokratischen Staaten besonders wichtig, die Sowjetunion auf ihrer Seite zu haben – und nicht auf der Seite Hitlers. Es war ein Zwangsbündnis, sowohl für die Demokratie als auch für Stalin.

Stalin brauchte den 9. Mai, um seinen Sieg von dem der anderen Alliierten zu trennen. Stalin erfand sogar eine weitere Zeremonie, um eine unüberwindbare Barriere zwischen der demokratischen und der autoritären Welt zu schaffen. Seitdem feiern die Demokratien den Tag des Sieges am 8. Mai, und die autoritären Staaten feiern am 9. Mai.

Wir müssen einen simplen Sachverhalt verstehen, den wir uns selbst nicht eingestehen wollen: Nicht alle, die den Nationalsozialismus ausgemerzt haben, haben Verbrechen in diesem Krieg begangen. Doch Millionen Menschen dienten in der UdSSR in einer verbrecherischen Armee einem verbrecherischen Staat. Dieser Staat hat schon damals, 1944/45, genau solche Verbrechen in Europa begangen, die er jetzt, vor unser aller Augen in der Ukraine, in Butscha, Mariupol und Cherson, begangen hat. Und unsere Angehörigen waren Teil dieser Maschinerie.

Deshalb wünsche ich mir, dass die Ukraine den 8. Mai gemeinsam mit den Demokratien weltweit feiert – damit wir keine Legenden darüber erzählen, wie wir die Welt von der Nazi-Pest befreit haben.

Das russische Regime hat den Kult um den 9. Mai zum Teil der politischen Kultur gemacht, die die Welt an den Rand des Dritten Weltkriegs gebracht hat. Jugendliche, die seit Anfang der 2010er Jahre in russischen Kindergärten und Schulen in Militäruniformen gekleidet und mit Hass auf Europa indoktriniert wurden, sind erwachsen geworden und unterstützen seit 2022 den Angriffskrieg auf die Ukraine.

Meistens behaupten die Gegner dieser Logik, dass die Gefühle derjenigen, die das Erinnern am 9. Mai gewöhnt sind, respektiert werden sollten. Aber ich glaube nicht, dass der Gedanke an diese Gewohnheit den 96-jährigen Buchenwald-KZ-Häftling Boris Romantschenko in seinen letzten Atemzügen beschäftigte. Er überlebte zwar den Holocaust, wurde dann aber von einer russischen Rakete in seiner Charkiwer Wohnung getötet.

Nicht an die „Gewohnheit des 9. Mai“, sondern an die zynischen Wendungen der Geschichte dachte vielleicht auch die 91-jährige Wanda Objedkowa, die im Frühjahr 2022 in einem Bunker in Mariupol starb. Als Kind hatte sie sich in den Kellern Mariupols vor den Bombenangriffen der Nazis versteckt. Nun starb sie durch die Bomben der Nachkommen der Sieger von 1945.

Deshalb wünsche ich mir, dass der 9. Mai endlich aus unserem Feiertagskalender verschwindet – trotz all des Geredes über eine mögliche Spaltung der Gesellschaft durch dieses strittige Thema. Eine Spaltung wäre es vielmehr, die Menschen in die schreckliche sowjetische Vergangenheit zurückzuversetzen – jetzt, in der schrecklichen Zeit des Krieges.

Feiert nicht den Tag des Sieges. Feiert lieber den Tag der Erinnerung an die Millionen von Opfern zweier Regime – die Opfer des Nazi-Regimes und die Opfer des kommunistischen Regimes.

Der Autor ist ukrainischer Journalist

Aus dem Russischen von Gemma Terés Arilla

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Bei uns in Frankreich wurde gerade heute morgen am Mahnmal für die Gefallenen wieder daran erinnert, dass die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht am 07. Mai in Reims in der Champagne im headquarter von General Eisenhower stattfand. Da Stalin aber darauf bestand, dass auch Rotarmisten mit aufs Foto müssen, da die rote Armee bei der Befreiung einiger neuer Bundesländer beteiligt war, wurde die ganze entourage nach Berlin-Karlshorst geflogen und die ganze chose kurz vor Mitternacht des 8. Mai nochmals nachgestellt. Wegen der Zeitverschiebung war es in Moskau schon der 9. Mai, offiziell der 8. Mai und in echt der 7. Mai. Honi soit qui mal y pense.

    • @Magic Theo:

      Sollte es Stalin wirklich nur um Fotos gegangen sein??? Wenn in Reims kein Rotarmist zugegen war, dann konnte die Kapitulation auch nicht der Sowjetunion gegenüber erklärt werden. Also bedurfte es einer gesonderten Unterschrift.



      Honi soit usw.

      • @Hans-Jürgen Heusel:

        General Susloparov hatte für die sowjetische Seite die Urkunde in Reims unterschrieben.

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    Putin hat wohl nichts mit dem Sieg über den Faschismus zu tun. Das scheint eher die Osteuropäische Entsprechung der deutschen Schlussstrichmentalität zu sein.

    Zu diesem Thema gibt es einen sehr viel gehaltvolleren Text:

    taz.de/Gedenktag-8-Mai/!5930089/

  • 8 oder 9



    Ganz einfach die letzte Unterschrift erfolgte nach Moskauer Zeit am 9. Mai.



    So einfach ohne finstere Deutungen.