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Russische Anschluss-SzenarienDas Recht auf unfreie Wahlen

Russische Politiker wollen die besetzten Gebiete in der Ukraine über Referenden an Russland angliedern. Sie übertreffen sich zurzeit mit Plänen.

Humanitäre Hilfe: Brotausgabe im ukrainischen Saporischschja Foto: Andriy Andriyenko/ap

Berlin taz | Bei einigen russischen Po­li­ti­ke­r*in­nen drängt sich die Frage auf, was sie geraucht oder genommen haben. So wartete der Abgeordnete Oleg Morosow, der für die Kremlpartei „Einiges Russland“ in der Duma sitzt, am Dienstag mit interessanten Einschätzungen auf. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew gebe es viele Einwohner*innen, die wollten, dass sich die Ukraine Russland anschließe. „Vielleicht wird Kiew schon in einem Jahr von Russland aufgenommen. Wenn sie es wollen. Geben wir ihnen diese Möglichkeit“, zitiert das ukrainische Webportal focus.ua den Volksvertreter.

Auch zu einer Annexion der Teile des südukrainischen Gebietes Saporischschja, die russische Truppen besetzt halten, äußerte sich Morosow. Da könne der Kreml schließlich auf die Erfahrung mit der Krim zurückgreifen, meinte er. Doch die Anpassung der Gesetzgebung werde einige Monate dauern.

Die ukrainische Halbinsel Krim hatten russische Truppen nach einem zweifelhaften Referendum im März 2014 im Schnelldurchgang annektiert. Dieses völkerrechtswidrige Vorgehen ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, international nicht anerkannt. Am Montag dieser Woche hatte der illegitime Chef des Gebietes Saporischschja, Ewgeni Balitzki, beim Forum „Wir sind mit Russland zusammen“ in der Stadt Melitopol eine Anordnung unterschrieben, die eine Volksabstimmung über die Vereinigung der Region mit Russland vorsieht.

Zuvor hatte ein Vertreter der von den Besatzern eingesetzten Verwaltung erklärt, dass die Erde von Saporischschja die Ukraine für immer verlassen werde. Das Gebiet nehme Kurs auf eine Vereinigung mit Russland. Einen Weg zurück gebe es nicht. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski quittierte die Ankündigungen mit der Bemerkung, dass sich Russland jede Chance auf Verhandlungen mit Kiew verbaue, sollte es mit der Durchführung sogenannter Referenden in den besetzten Gebieten beginnen.

Angeblich werden schon Wahlkommissionen gebildet

Entsprechende Szenarien geistern seit einigen Monaten herum, ein konkretes Datum wird bis jetzt nicht genannt. Cherson ist komplett unter Moskauer Besatzung, von dem Gebiet Saporischschja haben russische Truppen derzeit rund 60 Prozent erobert. Die gleichnamige Gebietshauptstadt hielt den Angriffen bisher stand und ist weiter unter ukrainischer Kontrolle. Angeblich soll die Bildung von Wahlkommissionen bereits in vollem Gange sein. Ihr sollen die „aktivsten und interessiertesten“ Leute angehören, wie dem russischsprachigen Nachrichtenportal Nastojasche vremja unter Berufung auf die russischen Besatzer zu entnehmen ist.

Dennoch ist die Frage offen, wie das Referendum im Gebiet Saporischschja überhaupt durchgeführt werden soll. An einer Antwort versuchte sich am Montag der Vize-Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten des russischen Föderationsrates, Wladimir Dschabarow.

Dafür sei es notwendig, das gesamte Territorium des Gebiets Saporischschja von den „Neonazisten“ zu befreien. „Die Antwort der internationalen Staatengemeinschaft wird negativ sein. Das war auch im Fall der Krim so. Aber wir führen die russische Welt zu ihren ursprünglichen Grenzen zurück. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft sind zweitrangig“, sagte Dschabarow.

Die der Be­woh­ne­r*in­nen der besetzten Gebiete offensichtlich auch. So will das russische oppositionelle Webportal Meduza aus gut informierten und der Putin-Administration nahe stehenden Quellen erfahren haben, dass Mitte Juli in den Gebieten Cherson und Saporischschja eine Umfrage durchgeführt worden sei. Nur rund 30 Prozent der Befragten hätten dabei für eine Vereinigung mit Russland gestimmt.

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6 Kommentare

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  • Angeblich war es ja die Annäherung der NATO an die russische Grenze, die Putin abwehren wollte. Jetzt verschiebt er die russische Grenze näher an die NATO. Man könnte fast meinen, dass das ganze NATO-Argument nur vorgeschoben war, um die Wiedergründung der Sowjetunion ohne den ganzen lästigen sozialistischen Lack über der russisch imperialen Realität durchzusetzen. Der Westen lässt sich dabei seit den 70er Jahren (deutsche Firmen bauten die sowjetische Gasinfrastruktur auf) aus Bequemlichkeit vorführen.

  • Die Sache ist ganz klar ein gewaltsamer Überfall um sich zu bereichern, also Raub.



    Sehr ähnliche Ambitionen hat China in Bezug auf ua. Taiwan. Auch hier wird es zu Raub kommen. Im ganz großen Stil.

  • Nichts illustriert die wirklichen Verhältnisse in den von Russland "kontrollierten" Teilen der Region Zaporoschschja besser als die Tatsache, dass die russische Armee für ihre Truppenverlagerungen Richtung Süden und für den Nachschub schon seit Wochen einen riesigen Umweg über die Krim nimmt, der sie viel Zeit und Ressourcen kostet. Sie trauen sich nicht, den Landkorridor via Mariupol, für dessen Eroberung sie sich so feiern, zu benutzen.



    Das einzelne Akteure die von ihnen verantworteten Subpläne im Großen Eroberungsplan stur weiterführen, ohne sich darum zu kümmern, dass das Militär dieweil den Krieg verliert, würde ich nicht allzu ernst nehmen und als Zerfallserscheinung werten. Sergej Kirijenko ist der "Kurator" für die Integration der eroberten Gebiete, also zieht er seine Drehbücher durch: Referenden abhalten, Verwaltungen aus angeworbenen Russen aufbauen (willfährige Kollaboranten gibt es zu wenige), das AKW Zaporoschschja vom ukrainischen Stromnetz ab- und ans Netz der Krim ankoppeln, usw.



    Ich schätze, die Referenden im September werden ausfallen.

  • Nach den veröffentlichten Karten ist das nicht, oder nicht mehr zutreffend: "Cherson ist komplett unter Moskauer Besatzung,"

    Die Kontrole über kleinere Teile des Bezirks (Oblast), dünn besiedelt, hat die Ukraine offenbar zurückerobert. Zudem sind auch große Teile der bisherigen Bevölkerung, die Interesse an einem Referendum haben könnten, derzeit nicht anwesend.

    Ein solches würde allerdings auch bei mehrheitlicher Zustimmung und bei regulären Verhältnissen bei der Durchführung nicht zu eine Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit führen.

  • Imperialismus in seiner reinsten Form.

  • Die spinnen die Römer.