Russische Ärztin über Corona: „Einige sind aus dem Fenster gesprungen“
Die Lage im russischen Gesundheitswesen sei desolat, sagt Anastasia Wassiljewa von der Ärztegewerkschaft „Allianz der Ärzte“. Kritik werde sanktioniert.
taz: Frau Wassiljewa, Russland hat als erstes Land im Sommer den Impfstoff Sputnik V gegen Corona registrieren lassen. Im Dezember soll die Produktion in Südkorea anlaufen …
Anastasia Wassiljewa: Der funktioniert aber nicht so richtig. Nach der Impfung haben sich Probanden noch infiziert. Vielleicht kann er Sterblichkeit und Krankheitsgefahr verringern. Aber es ist kein rettendes Wundermittel. Massenimpfungen wurden schon im August angekündigt, weil wir die Ersten sein sollten. Die Bevölkerung sollte das Gefühl haben: Russland geht voran. Wir hatten ein Präparat, aber damit hatte alles dann auch sein Ende.
Warum wandern die Mitarbeiter im Gesundheitswesen ab und suchen sich andere Jobs?
Das ist ein großes Problem. Viele Ärzte erhielten keine staatlichen Zulagen, die Präsident Putin im Frühjahr versprochen hatte. Sie sind erschöpft und kündigen. Ein Arzt muss manchmal 400 Patienten betreuen. Keiner hält das auf Dauer durch. Außerdem fehlen Krankenhausbetten, Patienten erhalten nicht die notwendige Hilfe. Einige Ärzte sind im Frühjahr schon aus Verzweiflung aus dem Fenster gesprungen.
Dennoch stellen Sie einen Mentalitätswandel fest?
Früher spielte das Verhältnis eines Arztes zur Politik keine Rolle. Das verändert sich. Der Gesundheitsbereich begreift, dass er betrogen wird und die Mitarbeiter rechtlos sind. Wenn das Fachpersonal geht, nehmen Sterblichkeit und Erkrankungen zu. Ein Teufelskreis.
Welche Regionen sind am schlimmsten betroffen?
In manchen Regionen fehlen sogar Kräfte, die sich um die Verlegung von Verstorbenen kümmern. Sie bleiben neben anderen Patienten liegen. Moskau macht da noch eine Ausnahme. In Magadan, im Fernen Osten, Kurgan und Nowgorod ist die Lage ziemlich angespannt. In Chakassien etwa konnte die Ambulanz für einen älteren Mann keinen Klinikplatz finden und sollte ihn wieder nach Hause bringen. Wegen fehlender Betten kommt das häufig vor. Notrufe werden nicht angenommen und Menschen sterben ohne Hilfe zu Hause. In Sankt Petersburg prüft eine Kommission, warum die Sterblichkeit dort höher ist als in Dagestan. Die Kaukasusrepublik hatte im Sommer einen verzweifelten Hilferuf nach Moskau gesandt und umgehend Soforthilfe erhalten.
Fehlt es nur am Geld oder auch an Infrastruktur?
Manchmal gibt es keine Schutzmittel, da das Geld entweder nicht rechtzeitig ausgezahlt oder vergessen wurde. Gelegentlich wird Schutzkleidung auf dem Schwarzmarkt angeboten. Das ist Korruption. Kontrollinstanzen schauen einfach weg. Oft wird auch Geld gestohlen: Junge Ärzte erhalten die 1-Million-Rubel-Prämie nicht, die ihnen helfen sollte, sich als Landarzt niederzulassen. In den letzten Jahren wurden von 15.000 Kliniken 8.000 geschlossen und deren Angestellte entlassen. In Russland gibt es nur noch 200 Fachärzte für Kinderonkologie. Mit der sogenannten Optimierung wurde dem Gesundheitswesen der Boden entzogen.
Die russische Statistik steht in der Kritik. Im internationalen Vergleich fällt die Sterberate sehr niedrig aus. Der Mitarbeiter der Statistikbehörde, Alexander Rakscha, sprach von drei- bis viermal mehr Sterbefällen. Daraufhin hat er seine Arbeit verloren.
Arbeitet als Augenärztin in Moskau. Zuvor war sie als Dozentin am Forschungsinstitut für Augenkrankheiten tätig. 2018 gründete sie die unabhängige Gewerkschaft „Allianz der Ärzte“. Seit 2017 behandelt sie auch den Oppositionellen Alexej Nawalny, mit dessen juristischer Hilfe die Entlassung ihrer Mutter aus demselben Forschungsinstitut in Moskau verhindert werden konnte. Nawalny musste sich nach einem Säureangriff 2017 behandeln lassen.
Natürlich wird die offizielle Sterblichkeit als deutlich niedriger angegeben. Das ist ganz einfach. Jeder Arzt klebt an seinem Sessel. Wenn er zugeben würde, dass in der Klinik nicht alles zum Besten stünde, dürfte er über kurz oder lang den Job verlieren. Es gibt aber auch keine richtigen Kontrollinstanzen. Statistiken werden „gemalt“, wie wir es nennen. Das Verständnis für eine echte Statistik fehlt. Ich habe selbst in einem Forschungsinstitut gearbeitet und kenne unsere Wissenschaft und Statistik. Egal welcher Bereich – ob Medizin oder Energie –, die Prinzipien sind dieselben. Außerdem denkt jeder nur an sich.
Trotz Störmanöver und bürokratischer Hemmnisse nehmen Ärzte die Unterstützung der Gewerkschaft an?
Die Lage ist schlimmer als im Frühjahr. Sobald Mitarbeiter Hilfe erhalten, laufen sie Gefahr, entlassen zu werden. Erstaunlich ist, dass trotz bürokratischer Gegenwehr viele in die Gewerkschaft eintreten. In Nowgorod wurde ein Chirurg zu einer Strafe von 50.000 Rubel (545 Euro) verurteilt, weil er unsere Masken und Blutdruckmesser angenommen hatte. Angeblich soll er Hygienevorgaben nicht beachtet haben. Er wird bestraft, weil er organisiert, was der Klinik fehlt.
Haben Sie persönlich keine Angst? Sie wurden vorübergehend festgenommen und mussten Strafe zahlen.
Keineswegs. Ich glaube, ich kann meinem Land damit helfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen