Russisch-ukrainische Familiengeschichte: Von der Vergangenheit abgeschnitten
Als Kind reiste ihr Vater jeden Sommer aus Russland nach Odessa. Unsere Autorin plante eine Reise auf seinen Spuren. Dann brach der Krieg aus.
K rieg bedeutet immer auch Verlust. Und ich rede hier nicht nur über Leben, Gesundheit und nahestehende Menschen. Es gibt noch einen anderen Verlust, den man nicht sofort bemerkt, der sich zunächst nur verschwommen im Inneren zeigt, dann aber nach außen dringt.
ist Journalistin und Videoproduzentin. Sie lebt und arbeitet in St. Petersburg.
Viele meinen, dass sie mit diesem Krieg ihre Zukunft verloren haben, dass wir jetzt ein Stigma haben, dass die Schrauben immer fester angezogen werden, dass ein falscher, ostentativer Patriotismus eine anständige Erziehung, Karriere und Broterwerb behindert. Das stimmt alles. Aber das Bitterste ist für mich gerade der Verlust meiner Vergangenheit.
Mitten in der Pandemie habe ich begonnen, alte Familienfotos, Briefe und Dokumente zu sichten. Anschließend habe ich eine Reise in die Ukraine geplant. Dort sind zwei meiner Urgroßmütter begraben. In einem Massengrab liegen dort zwei Großonkel, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Ich wollte schon losfahren, dachte dann aber, dass gerade nicht die beste Reisezeit sei.
Dann zeigte sich, dass jede Zeit besser gewesen wäre als die jetzige. Am meisten fürchte ich mich gerade vor Nachrichten aus Odessa. Es ist mein Traum, einmal in diese Stadt zu reisen, die ich nur aus Briefen und von Fotos kenne. Die Vergangenheit meiner Familie lebt dort, für immer von mir abgeschnitten. Und wenn sie anfangen, Odessa zu bombardieren, zerreißen sie mir für immer das Herz.
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Ein Foto aus Odessa, 1950. Die Brüder meiner Großmütter stehen mit ihren Frauen bis zu den Knien im Meer. Meine Tante ist noch ein ganz junges Mädchen. Alle strahlend und glücklich: Der Krieg ist vorbei, das bedeutet, dass nichts Schlimmes mehr passieren wird.
Ein anderes Foto, 1961. Im Hof eines Hauses steht eine große Familie: mein 9-jähriger Vater, seine Großmutter, die Cousins und Cousinen. Mein Vater hat mir erzählt, dass der Anblick des Meeres, das er in Odessa zum ersten Mal sah, seine schönste Kindheitserinnerung ist. Auch erzählte er von dem Geräusch der Pfirsiche, die, wenn sie reif genug waren, nachts mit klopfendem Geräusch aufs Dach fielen.
Fast jeden Sommer reiste er durch das halbe Land zu seinen Verwandten in Odessa. Und viele Jahre später, als er sechzig wurde, fuhr er wieder hin, um dort das Haus am Meer noch einmal zu sehen, das schon lange verkauft und zu einem Hotel umgebaut worden war. Das war 2012, er hat es zum Glück noch geschafft.
Neulich habe ich auf der Website eines lokalen Fernsehsenders aus Odessa einen alten Beitrag von 2015 gefunden. Eine der Heldinnen des Films war eine 92-Jährige, die Frau eines verstorbenen Verwandten von mir. Ich habe sie nie persönlich getroffen und sie nur namentlich gekannt. Sie hat vor der Kamera ihre Gedichte über ein fernes russisches Dorf vorgelesen, ihre Heimat, wo ich selber früher jedes Jahr gewesen bin.
Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Ich verstehe, dass sie aufgrund ihres Alters wohl nicht mehr am Leben ist, aber es besteht zumindest eine Restchance! Ich hätte ihr gerne einen Brief geschrieben und gesagt, dass man an sie denkt und dass sich der Fluss in ihrer Heimat noch immer durch grüne Wiesen schlängelt. Aber man kann keine Briefe mehr in die Ukraine schicken. Entschuldige bitte, Tante Sofa, ich habe es nicht geschafft.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
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