Russisch-kasachische Beziehungen: Eine Jurte als Politikum
Kasachen stellen in Butscha eine Jurte auf, an der sich Menschen aufwärmen können. Moskau fordert eine offizielle Stellungnahme.
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine befindet sich Kasachstan, das mit beiden Staaten freundschaftliche Beziehungen unterhält, in einer schwierigen Situation. Einerseits konnte Astana die Ukraine in keiner Weise offen unterstützen: die Abhängigkeit von Russland ist zu groß, zudem hält die Republik am „Multivektorprinzip“ fest (Versuch einer ausbalancierten Außenpolitik zwischen Ost und West; d. Red.) und lässt sich grundsätzlich nicht in einen Krieg hineinziehen.
Andererseits ist die territoriale Integrität von Staaten für Kasachstan von elementarer Bedeutung. Demgegenüber nimmt Russland sich heraus, dieses grundlegende Prinzip nicht anzuerkennen. Das führt zu erhöhten Spannungen um die nördlichen Regionen Kasachstans (dort leben vorwiegend ethnische Russen; d. Red.).
Die Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation. Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde sie verboten. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die die Invasion niemals akzeptieren werden. In diesem Dossier veröffentlicht die taz Texte russischer Journalist:innen über das erste Kriegsjahr und seine Folgen für die Welt und für Russland, über die Veränderungen in der russischen Bevölkerung, wofür das Adjektiv „russisch“ heute und in Zukunft steht, und berichten über Menschen, die Widerstand leisten. Die Texte sind auf Initiative der taz Panter Stiftung entstanden und geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Es ist bereits das zweite Dossier mit Texten der Novaya Gazeta Europe in der taz. Das erste ist im Mai 2022 erschienen. Die Texte des ersten Dossiers finden sich hier.
Deshalb sagte Präsident Kassym-Schomart Tokajew offen, dass Kasachstan die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ostkukraine definitiv nicht unterstützen werde.
Doch noch während Politiker untereinander darüber diskutierten, hatten einfache Bürger aus den Reihen einer aktiven Zivilgesellschaft ihre Wahl bereits getroffen. Seit Beginn des Kriegs wurden mehrere Ladungen Hilfsgüter in die Ukraine geschickt – von Lebensmitteln und Kleidung bis hin zu Wärmegeneratoren. Anfang März 2022 fand in Almaty eine genehmigte Kundgebung zur Unterstützung der Ukraine statt.
Doppelgleisiges Denken
Nun ja, nachdem die Teilnehmer zu laut geschrien hatten (und das kam in vielen Berichten vor), wie man Wladimir Putin nennen sollte, wurden keine weiteren Kundgebungen mehr abgehalten. Bis zu einem gewissen Punkt kam ein solches doppelgleisiges Denken offenbar auch Moskau entgegen. Das änderte sich, als in der ukrainischen Stadt Butscha eine „Jurte der Unbesiegbarkeit“ errichtet wurde.
Eine Jurte ist eine traditionelle Behausung der Steppenkasachen, ein Synonym für Schutz und Wohlstand. In der Ukraine erfüllt das von Kasachen übergebene Exemplar genau diese Funktion: Dort kann man sich aufwärmen, Telefone aufladen, Tee trinken – im Allgemeinen wirkt diese Geste eher symbolisch, aber dennoch schön.
Anfangs gab es Berichte in den Medien, dass die Botschaft von Kasachstan in der Ukraine direkt an der Installation der Jurte beteiligt gewesen sei, aber es scheint, dass dies nicht ganz so stimmt. Zwar ist die Botschaft über alle humanitären Lieferungen irgendwie auf dem Laufenden. Das bedeutet jedoch nicht, dass für den Transport und die Unterhaltung einer solchen Lieferung bei der Vertretung der kasachischen Behörden eine Genehmigung eingeholt werden muss.
Und so beschleicht einen das Gefühl, dass die Botschaft den Moment des Ruhms teilen möchte, als Medien und der Regierung gegenüber illoyale Aktivisten anfingen, von der Errichtung der „Jurte der Unzerstörbarkeit“ als einer Art moralischen Triumphs zu sprechen.
Anschauliches Beispiel
Doch russische Diplomaten lesen ebenfalls Medien und denken komplett anders über diese Angelegenheit. Deshalb sagte die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, die in ihrer Funktion für zahlreiche lautstarke Äußerungen verantwortlich zeichnet, am Abend des 10. Januar, ihre Behörde warte jetzt auf eine „offizielle Stellungnahme“ von Kasachstan bezüglich der Nichtbeteiligung seiner Behörden an der Aufstellung dieser Jurte.
Nach dem Motto: Ihr habt Russland zum Beispiel nicht in aller Öffentlichkeit gesagt, dass die Jurte nicht eure ist, aber das muss für die ganze Welt klargestellt werden. Der Antwortkommentar des Pressesprechers des kasachischen Außenministeriums, Aibek Smadijarow, gefiel oppositionellen Aktivisten nicht, er ist aber ein anschauliches Beispiel östlicher Schläue:
„Die Botschaft von Kasachstan hat damit nichts zu tun. Dies ist eine Initiative privater kasachischer Unternehmen. Wir können ihnen das nicht verbieten. Sie haben die Jurte geliefert, aufgestellt und dabei selbst mit angepackt. Wir sehen kein Problem darin, eine Jurte aufzustellen. Die Jurte ist eine traditionelle Behausung für Nomaden, sie ist einfach zu montieren und umweltfreundlich. Das ist eine Initiative von Geschäftsleuten, um dem ukrainischen Volk zu helfen. Eine besondere Stellungnahme zu diesem Thema halten wir für nicht erforderlich, da wir die Aufstellung dieser Jurte nicht als ein Problem ansehen. Im Gegenteil, wir sind stolz darauf, dass wir eine Jurte haben.“
Obwohl es laut Sacharowa keine direkte Anweisung gab, sich von der Jurte zu distanzieren, fiel gleichzeitig der Satz, dass ein offizieller Kommentar aus Kasachstan erforderlich sei, um eine weitere Diskussion dieses Themas zu vermeiden. Denn deren Ziel sei es, der russisch-kasachischen strategischen Partnerschaft und Allianz zu schaden.
Symbol des Friedens
In den Kommentaren zu den Nachrichten wird bereits darüber gelästert, wie zart die Natur russischer Diplomaten sein muss, da sie von einer einfachen Wohnung ohne Ecken – in der Tat ein Symbol des Friedens – so gestresst seien.
Genau das ist das Problem: Demonstrative Gesten, von welcher Seite auch immer, machen Regimen wie dem russischen mehr Angst als konkrete Aktionen. Eine Jurte ist schlimmer als ein Wärmegenerator, denn sie symbolisiert nicht nur Menschlichkeit, sondern auch Solidarität zwischen Nationen. Rufe wie „Putin – la-la-la!“ sind schlimmer, als Russen aufzunehmen, die vor der Einberufung fliehen. Denn solche Schlachtrufe entweihen das Regime, machen es lächerlich und spielen die Bedeutung der Angst vor ihm herunter.
Die demonstrative Verspätung von Putin zu einem Treffen (so etwas gab es im vergangenen Jahr) ist viel unangenehmer als die Lieferung von Waffen: Für das russische Regime ist Respektlosigkeit schlimmer als durch solche Waffen getötete Soldaten.
Eine solche auf den Kopf gestellte Logik ist eine Folge tiefster psychologischer Komplexe der wichtigsten Repräsentanten des Regimes. Und die Situation mit der Jurte oder mit diesem Angriffsgeheul stellt in gewisser Weise eine Analogie zu einem Ereignis von 1934 dar.
Hysterie im Außenministerium
In jenem Jahr brach im nationalsozialistischen deutschen Außenministerium Hysterie aus, weil die jüdische Diaspora in den Vereinigten Staaten plante, in Abwesenheit von Adolf Hitler einen Schauprozess gegen ihn abzuhalten. Der damalige deutsche Chefdiplomat, Konstantin von Neurath, hätte den USA fast gedroht, dass die Durchführung eines solchen Prozesses eine Verschlechterung der beiderseitigen Beziehungen zur Folge haben könne.
Die Reaktion der amerikanischen Seite damals und der kasachischen Seite heute ist sehr aufschlussreich: Im Jahr 1934 hatte auch der Vizeaußenminister der USA, William Phillips, erklärt, dass die Behörden seines Landes nichts mit privaten Initiativen zu tun hätten. Nach diesem „Prozess“ erklärte das Außenministerium, dass der Staat kein Recht habe, auf Handlungen von US-Bürgern Einfluss zu nehmen, wenn diese keine Gesetze verletzten.
In dem Buch „Tiergarten – in the Garden of Beasts“ von Erik Larson, das diesen Konflikt beschreibt, wird darauf hingewiesen, dass die Deutschen „das nicht verstehen“ konnten: dass der Staat seinen Bürgern nicht vorschreiben darf, was sie denken sollen.
Natürlich sind Aibek Smadiyjarow und das kasachische Außenministerium nicht William Phillips und das US-Außenministerium (unter anderem behandelten die Behörden in den Vereinigten Staaten das Hitler-Regime schon damals mit unverhohlenem Ekel, wohingegen wir nicht wissen, was das kasachische Außenministerium wirklich denkt).
Moderatere Rhetorik
Unlängst hatten Kasachstan und Maria Sacharowa einen Konflikt – anscheinend ist die Rhetorik diesmal daher moderater. Die jüngste Auseinandersetzung sollte das russische Außenministerium stärker belasten als die kasachische Jurte, die aufgestellt wurde, damit sich die Einwohner in Butscha aufwärmen können.
Übrigens: Die Tatsache, dass die menschlichen Schritte anderer die russischen Behörden viel mehr erzürnen als ihr eigener Kannibalismus, spricht für sich.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo
Liberale in der „D-Day“-Krise
Marco Buschmann folgt Djir-Sarai als FDP-Generalsekretär